Boreout statt Burnout: Auch Unterforderung kann Stress im Job verursachen und sogar krank machen

Torsten Gottschall hatte immer gut zu tun in seinem Job. In der Behindertenarbeit einer städtischen Verwaltung in Schleswig-Holstein gab es für ihn selten Leerlauf. Bis seine Vorgesetzte ihn 2005 ins Controlling zwangsversetzte. „Die wollte mich loswerden“, erzählt Gottschall. Der Sozialwissenschaftler versteht nur wenig von Zahlen. „Plötzlich hatte ich keine Aufgabe mehr.“

Die Schweizer Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter Werder prägten 2007 mit dem Buch „Diagnose Boreout“ ein Symptom, dass als Krankheitsbild erst langsam erforscht wird. „Seitdem haben wir ein unglaubliches Feedback bekommen“, sagt Rothlin. Im Gegensatz zum Burn-out beschreiben die Buchautoren Beschäftigte, die aus Langeweile (boredom) oder Unterforderung im Job krank werden. Die Symptome können ähnlich sein wie beim Burn-out-Syndrom.

„Das Bewusstsein ist wichtig, dass Leute unter der Situation leiden“, erläutert Rothlin. Dabei gehe es keineswegs um Faulheit. Rothlin nennt das die „Mär des süßen Nichtstuns“. „Es gibt Leute, die sind faul und schaden damit dem Unternehmen und den Kollegen. Die gehören entlassen. Wer Boreout hat, wird in die Situation hineinmanövriert. Das liegt in der Verantwortung des Vorgesetzten.“

13 Prozent der Beschäftigten fühlen sich laut einer Studie fachlich unterfordert

Boreout entsteht durch zu wenige oder falsche Aufgaben, häufig in Verwaltungs- oder Dienstleistungsjobs, in denen Aufgaben wegrationalisiert oder durch Software erledigt werden. Laut dem Stressreport 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua) fühlen sich 13 Prozent der abhängig Beschäftigten fachlich und fünf Prozent mengenmäßig im Job unterfordert. Auch Torsten Gottschall hätte gerne mehr gemacht. „Der Stress war, dass mir nichts mehr zugemutet wurde.“ Gottschall hatte Sozialwesen studiert, eine Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht, eine Alteneinrichtung geleitet. „Ich galt als Leistungsträger, plötzlich war ich eine Null.“

Paradoxerweise täuschen Boreout-Betroffene häufig vor, beschäftigt zu sein, starren auf den Bildschirm, berichten Kollegen von einem Berg an Aufgaben. Sie machen mitunter Überstunden, um ihr Nichtstun zu kaschieren. Wer nur Löcher in die Luft starrt, riskiert seinen Arbeitsplatz. Gerade diese Vertuschungsstrategien erzeugen aber laut Experten Stress und können die Gesundheit belasten.

„Ich kann nicht über Langeweile sprechen in einer Zeit, wo Leistung das Maß aller Dinge ist und jeder um seinen Job kämpft“, sagt Arbeitssoziologin Elisabeth Prammer. Sie hat Boreout-Biografien unter die Lupe genommen. Das Problem sei weit verbreitet, werde jedoch tabuisiert. Ihrer Meinung nach passt das Syndrom Boreout in unsere Zeit ebenso wie Überforderung.

Torsten Gottschall berichtet von Gefühlen der Wertlosigkeit, von Antriebslosigkeit, Depression. „Ich habe mich tödlich gelangweilt“, sagt er. Irgendwann stand seine Beziehung auf der Kippe, zweieinhalb Jahre begibt er sich wegen der Unterforderung in psychotherapeutische Behandlung. „Lange Fehlbeanspruchung kann krank machen“, bestätigt Baua-Expertin Andrea Lohmann-Haislah. Unterforderung könne ebenso wie Überlastung zu Depressionen, chronischen Rückenschmerzen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen.

Fachlich unterfordert seien laut Lohmann-Haislah vermehrt Beschäftigte im Gastgewerbe oder in Verkehrsbetrieben wie Zimmermädchen und Busfahrer. Auch Tätigkeiten mit monotonen Arbeitsvorgängen, wie sie zum Beispiel teils Warenprüfer in der Qualitätskontrolle haben, unterfordern schnell. Selbstständige leiden seltener an Boreout.

Die Folge ist meist Resignation. Nach einer Umfrage des Beratungsunternehmens Gallup über die emotionale Bindung zum Arbeitgeber leisten 67 Prozent der Arbeitnehmer Dienst nach Vorschrift. Gut jeder sechste Beschäftigte hat nach eigener Aussage bereits innerlich gekündigt.

In vielen Unternehmen fehle ein Ansprechpartner für das Thema, sagt Prammer. Firmen müssten alte Strukturen aufbrechen, Arbeitszeiten flexibler gestalten und Heimarbeit erlauben. Experten raten Betroffenen vor allem zum frühen Dialog mit dem Arbeitgeber. „Das Wichtigste ist die Eigenverantwortung. Man muss selber etwas tun“, rät Buchautor Rothlin. Beschäftigte sollten vom Vorgesetzten aktiv spannendere Aufgaben einfordern. „Vielleicht auch einmal ungefragt neue Dinge erarbeiten und sich nicht der Langeweile ergeben“, sagt Rothlin. Die Wünsche formulieren Arbeitnehmer dabei am besten positiv, rät Lohmann-Haislah. „Es geht darum, wie die Nachricht verpackt ist“, erklärt auch Rothlin. In großen Firmen lohne sich der Blick in andere Abteilungen, ob sich dort neue Aufgaben anbieten. Als letztes Mittel bleibt die Kündigung.

Auch Torsten Gottschall kündigte. Nun arbeitet er Vollzeit in seiner eigenen psychotherapeutischen Praxis und leitet ein regionales Netzwerk gegen Mobbing. „Ich bin mehr ausgelastet, als mir lieb ist“, sagt der 54-Jährige.