Man muss sein Potenzial entwickeln, heißt es immer. Aber wie erkennt man eigentlich, wo die eigenen Stärken liegen?

Potenzial ist das, was jemand kann, aber noch nicht zeigt. „Was in uns schlummert und darauf wartet, entdeckt und gelebt zu werden“, nennt es Corinna Kegel. Die Beraterin und Inhaberin von „eigenart Coaching & Training“ wählt große Worte, um die Bedeutung von Potenzial zu erklären: Kann man es entfalten, „entsteht in der Regel Lebenszufriedenheit, und ich empfinde mein Leben als sinnerfüllt“. Aufs Berufsleben bezogen, mag das nicht immer gleich pure Wonne sein, aber in jedem Fall geht die Arbeit leichter von der Hand, macht mehr Spaß und führt auch zu größeren Erfolgen, wenn sie besser den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben entspricht.

Dafür, dass man am in diesem Sinne falschen Arbeitsplatz gelandet ist, nennt Coach Tabea Jonas einige Anzeichen: wenn man das Gefühl hat, „dass die eigene Arbeit nicht ausreichend gewürdigt wird, wenn man sich ständig über- oder unterfordert fühlt oder wenn man der Arbeit tendenziell lustlos nachgeht“. Auch Neid könne ein Hinweis darauf sein, dass ein Berufstätiger unter seinen Möglichkeiten bleibt, sagt Jonas. „Wenn ich zufrieden mit allem bin, bin ich nicht neidisch auf eine Freundin, die mir erzählt, dass sie jetzt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin macht“, gibt die ehemalige Berufsmusikerin ein Beispiel. Dann blicke man nicht scheel auf Kollegen in höheren Gehaltsklassen, und denke auch nicht „Das kann ich aber besser“, wenn man Referenten, Kundendienstler oder Kreative bei der Arbeit erlebt.

Aber ist das wirklich so schwer, den richtigen Job zu finden – einen, in dem man das tut, was man gut kann und was man mag? Mitunter schon, sagt Ralf Haake, Seniorconsultant der SO Beratergruppe. Oft sei schon der Einstieg in den Beruf falsch gewählt. „Dann beginnt man etwas, um den Eltern zu gefallen, oder weil Freunde sagen: Damit kannst du viel Geld verdienen.“

Auch die Angst vor Erfolg kann Beschäftigte daran hindern, ihren wahren Neigungen zu folgen. „Weil Erfolg einen aus der Masse herauslöst, einen sichtbar und damit angreifbar macht“, sagt Corinna Kegel. Sie coacht schwerpunktmäßig Hochbegabte, die trotz ihrer Intelligenz oft Schwierigkeiten haben, ihr Potenzial in die richtigen beruflichen Bahnen zu lenken. Sich zu seinen Fähigkeiten und „zu sich selbst“ zu bekennen, sei immer schwieriger, als mit dem Strom zu schwimmen, sagt Corinna Kegel.

Ab dem Alter von 35 Jahren hinterfragten immer mehr Berufstätige, ob sie das weiterführen wollen, was sie bislang beruflich machen – und was sie nicht vollends zufriedenstellt, sagt Ralf Haake. Die Zwickmühle, in der sich Berufstätige nicht selten befinden: „Was man gut kann, fällt einem leicht, aber viele glauben noch immer daran, dass Arbeit anstrengend sein muss“, sagt der Organisationsberater. Hinzu kommt im Alltagstrott der Autopilot, wie Tabea Jonas es nennt: „Man denkt nicht mehr darüber nach, ob man das Leben führt, das man auch führen möchte.“

Bleibt die Frage, wie Berufstätige aus der latenten Unzufriedenheit „in die Kraft“ kommen, wie es Berater gern nennen, in den „Flow“ oder – einfacher – wie sie eine Aufgabe finden, die sie mit Freude und Selbstvertrauen erfüllt, weil sie ihren Stärken entspricht. Einfach einmal neu bewerben, hält Ralf Haake für den falschen Weg. Am Anfang müsse die Erkenntnis stehen, was man eigentlich sucht. Haake empfiehlt dafür Seminare in Life/Work-Planning. Das ist eine bewährte Methode, entwickelt in den 70er-Jahren von dem Amerikaner Richard Nelson Bolles, die hilft, das eigene Potenzial zu erkennen und Ideen zu entwickeln, in welchen Bereichen man beruflich am besten Fuß fassen könnte. Das Ergebnis kann dann tatsächlich ein neuer Job sein, aber auch eine Veränderung in der alten Firma wäre möglich, eine Gründung, Weiterbildung, ein Ehrenamt oder endlich die Bewerbung für den Führungsjob, den man sich bislang nicht zugetraut hat.

Corinna Kegel hält es für besonders ertragreich, sich diese eine Frage ehrlich zu beantworten: Was müsste anders sein, damit man mit Vorfreude zur Arbeit geht, die Zeit im Job quasi verfliegt und dass man sich auch am Abend noch ausgeglichen und kraftvoll fühlt? Sie kennt Fälle, in denen ein Unternehmerkind das gemachte Nest verlassen und sich auf eigene Faust selbstständig gemacht hat oder wo sich ein Angestellter endlich getraut hat auszuwandern – und heute mit Familie in seinem Wunschland lebt.

Auch wenn es gar nicht die ganz großen Veränderungen sein müssen: Die Erfolge lassen nach Worten der Experten nicht lange auf sich warten. „Man ist weniger erschöpft von der Arbeit, zufriedener, selbstbewusster, verdient oft auch mehr“, sagt Tabea Jonas. „Die Arbeit ist dann ein Teil des Lebens“, betont Corinna Kegel. „Kein Widerspruch zum Privatleben.“ Und Ralf Haake sagt: „Es ist einfach schön zu erleben, dass ich das Potenzial habe, selbst zu entscheiden, wo ich hinwill.“