Ob man zum Beispiel berufliche Mails beantwortet, sollte jeder selbst entscheiden dürfen, sagt Beraterin Silke Luinstra

Die Expertin für mobiles Arbeiten plädiert für bessere Absprachen: Wer sich von der ständigen Erreichbarkeit bedroht fühlt, muss in seinem Team eine Diskussion darüber anstoßen.

Hamburger Abendblatt:

Laut einer Bitkom-Umfrage ist ein Drittel der Mitarbeiter auch außerhalb der regulären Arbeitszeit für Chefs oder Kunden erreichbar. Wie finden die Mitarbeiter das?

Silke Luinstra:

Darauf gibt es ganz verschiedene Reaktionen. Der große Unterschied liegt meistens darin, ob jemand selbst bestimmen darf, dass er erreichbar sein will, oder ob ihm das diktiert wird. Zum Beispiel wird es in der Regel nicht als störend empfunden, abends noch E-Mails zu beantworten, wenn man aus Gründen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon um 16 Uhr das Büro verlassen hat. Wenn es aber die Erwartung gibt, abends oder am Wochenende online zu sein und es mir unmöglich gemacht wird, mich abzugrenzen, ist das eine Last. Wir müssen dahin kommen, es jeden so machen zu lassen, wie es zu ihm passt. Deswegen halte ich auch wenig davon, was VW gemacht hat: seine Blackberry-Server um 19 Uhr abzustellen, damit abends keiner mehr Nachrichten empfängt.

Schützt das denn nicht die Mitarbeiter?

Luinstra:

Nein. Das ist eine Gängelung von erwachsenen Menschen, Notwehr, weil man andere Themen nicht geregelt hat, etwa zu vereinbaren, in welchem Zeitraum Mitarbeiter auf eine E-Mail reagieren müssen. Dann denkt jeder, wenn um 21 Uhr eine Mail vom Chef kommt, muss er sofort antworten. Über so etwas muss man miteinander reden.

Kommt der Druck immer von außen?

Luinstra:

Druck von außen ist es zum kleineren Teil. Fahren Sie mal mit der Bahn – da sieht man, wie viel Lust die Leute zur mobilen Kommunikation haben, wie fasziniert sie noch immer davon sind, aber auch wie abhängig sie von ihr geworden sind. Manchmal ist es auch das Gebauchpinselt-Fühlen, das jemanden ständig seine E-Mails checken lässt. Den Mechanismus zu durchbrechen ist nicht leicht, wie bei jeder Gewohnheit. Jeder kapiert, dass es sinnvoller wäre, nur dreimal am Tag in seine Mails zu gucken. Trotzdem ist es schwierig, sich zu disziplinieren. Denn man muss sich fragen: Was gewinne ich dadurch, dass ich dauernd E-Mails checke, bewahrt es mich vor etwas anderem, das ich dann nicht angehen muss?

Was tut man, wenn das eigene Team erwartet, dass man ständig „on“ ist?

Luinstra:

Zunächst einmal muss man verstehen, dass alle Mitarbeiter an der Unternehmenskultur mitwirken. Wenn es also als schick gilt, viele Mails zu kriegen, abends lange im Büro zu sitzen oder am Wochenende zu arbeiten, ist jeder daran beteiligt. Dementsprechend möchte ich aber auch jeden, der merkt, dass es ihm nicht guttut, ermutigen, das Thema anzusprechen. Oft denkt man ja, man ist der Einzige, dem es so geht. Aber tatsächlich ist man ganz oft einfach nur der Erste, der es sagt. Jeder kann zu einer Kulturdurchbrechung beitragen, indem er Fragen stellt: Warum ist es für Sie, Chef, wichtig, dass ich nach 18 Uhr erreichbar bin? Was brauchen Sie nach 18 Uhr noch von mir? Damit stößt man eine Diskussion an.

Warum wird mobiles Arbeiten von vielen immer noch kritisch beäugt?

Luinstra:

Wir haben die Grundannahme, dass es gut ist, Privatleben vom Job abzugrenzen. Ich glaube aber, dass wir wieder dahin kommen sollten, eine Vermischung von beidem als normal anzusehen. Vor der Industrialisierung haben die Menschen in der Regel da gearbeitet, wo ihre Familien waren. Ich will die Zeiten nicht glorifizieren, aber die Trennung von Beruf und Privatem ist künstlich. Wir sollten akzeptieren, dass beides immer da ist: Statt eine Work- Life-Balance herzustellen, müssen wir unsere Work-Life-Kompetenz wiederentdecken. Wir sagen oft: Ich gehe zur Arbeit – da steckt drin, dass es sich dabei um einen Ort handelt. Nein, das ist es nicht, es ist eine Tätigkeit, die man in vielen Fällen überall ausüben kann.