Neue Studie belegt „soziale Selektivität“ beim Hochschulzugang. HAW Hamburg, die Arbeitsagentur und eine Initiative wollen motivieren

In Deutschland entscheidet immer noch die soziale Herkunft über den Bildungsweg. Dies ist eines der Ergebnisse der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Von 100 Kindern aus Akademiker-Familien studieren 77, von 100 Kindern aus Familien ohne studierte Eltern gehen nur 23 an eine Hochschule. „Diese soziale Selektivität beim Hochschulzugang hält seit Jahrzehnten an“, resümieren die Autoren der Studie. Warum ist das so?

Zum einen liegt das an den Bildungswegen, die Nicht-Akademiker-Kinder zur Hochschule führen. Sie erlangen ihre Studienberechtigung häufiger auf alternativen Wegen als über das Gymnasium, etwa über Berufliche Gymnasien oder eine Ausbildung plus Berufserfahrung. „Doch die Studierquote, also die Anzahl derjenigen, die tatsächlich ein Studium aufnehmen, liegt dort bei nur 50 Prozent“, sagt Prof. Monika Bessenrodt-Weberpals, Vizepräsidentin der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. „Die Studierquote der Gymnasiasten beträgt dagegen rund 90 Prozent.“ Die Unis und FHs können wenig ausrichten. Bessenrodt-Weberpals: „Was wir an den Hochschulen sehen, wird vom Schulsystem davor verursacht.“

Zum anderen sind es praktische Motive wie Finanzierung oder ein Umzug, die Kinder von Nicht-Studierten von der Hochschule fernhalten. Aber auch psychologische Gründe. Merle Mulder ist ehrenamtliche Koordinatorin der Hamburger Gruppe von ArbeiterKind.de, einer Initiative, die sich die Förderung des Hochschulstudiums von Nicht-Akademiker-Kindern zum Auftrag gemacht hat. Sie sagt: „Uns fällt auf, dass viele die Voraussetzungen für ein Hochschulstudium mitbringen, aber gar nicht darüber nachdenken, dass dies eine Option für sie sein könnte.“

Das Studium sei eine unbekannte Welt: „Oft fehlt das Erfahrungswissen, das andere von ihren akademisch ausgebildeten Eltern mitbekommen“, sagt Mulder. Wie organisiere ich ein Studium? Was werde ich hinterher mit dem Abschluss? Wie stehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt? Die Unsicherheit sei für viele abschreckend. „Am Potenzial liegt es jedenfalls nicht“, sagt auch Monika Bessenrodt-Weberpals von der HAW Hamburg. „Eher an fehlenden Vorbildern in der Familie.“

Viele Einrichtungen bemühen sich, junge Leute ohne studierte Eltern an die Hochschulen zu bringen. Studienberater der HAW zum Beispiel besuchen Stadtteilschulen und Berufliche Gymnasien genauso wie die klassischen Gymnasien. Und Thomas Vielhauer, Hochschulkoordinator der Arbeitsagentur Hamburg, hat das Thema für die jährliche Messe der Agentur „Studieren im Norden“ entdeckt. „Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels ist es wichtig, diejenigen, die studierfähig sind, auch zum Studium zu motivieren“, sagt Vielhauer. Die Initiative ArbeiterKind.de ist seit einigen Jahren mit einem Stand auf der Messe dabei.

Überhaupt hat sich ArbeiterKind. de zu einer echten Instanz entwickelt. Auch die HAW Hamburg kooperiert seit 2010 mit der Initiative. Seit 2012 gibt es in der Hochschule sogar ein Büro der hiesigen Gruppe, das Anlaufstelle für jedes „Arbeiterkind“ Hamburgs ist – nicht nur für (angehende) HAW-Studenten. „Mehr als 250 Ehrenamtliche engagieren sich in der Hamburger Gruppe“, erklärt Koordinatorin Merle Mulder. „Wir gehen zum Beispiel an Schulen oder auf Bildungsmessen, beraten in einer monatlichen Sprechstunde und bieten ein Mentorenprogramm an. Unsere Unterstützung richtet sich komplett nach den Bedürfnissen der Ratsuchenden.“

Denn gerade für die Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien gibt es zahlreiche Argumente, die für ein Studium sprechen. „Die Jobs für Akademiker sind in der Regel besser bezahlt und durch die vielfältigen Perspektiven auch sicherer“, sagt Monika Bessenrodt-Weberpals von der HAW Hamburg. Außerdem habe man mit einem Hochschulabschluss größere gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten und tue etwas für die eigene Bildung – im Sinne des lebenslangen Lernens. „Und es hat darüber hinaus ja auch einen sozialen Aspekt“, ergänzt Thomas Vielhauer von der Agentur für Arbeit. Er verspreche sich von einer größeren „Durchlässigkeit“ der sozialen Schichten mehr Bewusstsein und wachsendes Verständnis füreinander.

Karriereberaterin Barbara Schneider rät Studieninteressierten dazu, kritisch zu sein. „Man sollte eine womöglich negative Meinung seines Umfelds zur Hochschule nicht unreflektiert annehmen“, sagt sie, gesteht aber ein: „Ich weiß, dass das für junge Menschen schwer sein kann.“

Doch wenn Eltern für den soliden Lehrberuf plädieren, solle man sich bewusst machen, dass sich die Berufswelt seit deren Ausbildung verändert hat. „Mit einem Studienabschluss hat man heute einfach die besseren Berufschancen.“ Die Karriereexpertin sagt aber auch, dass nicht die Perspektiven allein den Ausschlag geben sollten. „Jeder muss sich überlegen, was er wirklich mal beruflich machen will. Wenn er dafür allerdings studieren muss, dann sollte er es auch tun.“ Beim Bewerben nach dem Hochschulabschluss sieht Schneider jedenfalls Vorteile für die sogenannten Studienpioniere: „Sich durchgeboxt zu haben und auch unter widrigen Umständen studiert zu haben – so etwas kommt in Bewerbungsgesprächen hervorragend an.“

Wer sich für ein Studium interessiert, ohne dass ihm Eltern oder Freunde auf dem Weg dorthin helfen könnten, dem raten Experten, sich an öffentliche Einrichtungen zu wenden: die Studienberatungen der Hochschulen und der Arbeitsagentur und nicht zuletzt ArbeiterKind.de. Wer zum Beispiel glaubt, ein Studium nicht finanzieren zu können, kann sich dort speziell zu BAföG und Stipendien – die es sehr zahlreich gibt – oder zum dualen Studium (Hochschule parallel zur bezahlten Berufsausbildung) informieren lassen. Merle Mulder weiß, dass es da Berührungsängste gibt: „Aber bei uns ist wirklich jeder willkommen“, versichert sie. „Niemand muss Angst haben, etwas ‚Falsches‘ zu fragen.“