Der Industriezweig mit bundesweit 415 000 Beschäftigten wächst. Doch Vorurteile verstellen bislang den Blick auf die Vielfalt der Jobs.

"In den Kesseln der Chemie brodelt es wie nie zuvor. Produktion: plus 6,5 Prozent, Umsatz: plus zwölf Prozent, Beschäftigung: plus zwei Prozent." So hieß es unlängst bei der Halbjahresbilanz des Verbands der chemischen Industrie, VCI. "Wir können jetzt mit Fug und Recht von einem Aufschwung in unserer Branche sprechen", sagt Präsident Klaus Engel. Hinter dieser Begeisterung steckt auch Erleichterung - schließlich gehörte die chemische Industrie in der letzten Wirtschaftskrise zu den Sorgenkindern. Rund 30 Prozent Absatzrückgang verzeichneten im Jahr 2008 viele der wichtigsten Produktsparten, Kurzarbeit und Entlassungen waren bei etlichen Firmen die Folge.

Derzeit arbeiten 415 000 Menschen deutschlandweit in der Branche. In Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die im Arbeitgeberverband ChemieNord organisiert sind, sind es 66 000. Mit einem Anteil von 25 Prozent sei Deutschland der größte Chemieproduzent in Europa und liege weltweit auf dem vierten Platz - "nach den USA, China und Japan", sagt Gerd Romanowski, Geschäftsführer Wissenschaft, Technik und Umwelt im VCI.

Die Chemie-Firmen beklagen zwar noch keinen echten Fachkräftemangel, äußern sich aber bedingt besorgt zum Thema Stellenbesetzung. "Bisher bekommen wir den Fachkräftemangel noch kaum zu spüren", sagt etwa Zhengrong Liu, Personalchef des Konzerns Lanxess in Leverkusen. "Bei Projektingenieuren merken wir allerdings, dass der Markt eng ist, die können sich aussuchen, wo sie hingehen wollen."

Alexander Warstat, Sprecher des Verbands ChemieNord, bestätigt punktuelle Engpässe. "So einige Firme suchen gute Chemielaboranten, teilweise auch Chemiker", hat er beobachtet. Er lobt allerdings auch den Weitblick der Unternehmen. "Wir steuern schon seit zehn Jahren klar gegen einen Fachkräftemangel." Vor allem mit Nachwuchswerbung: Viele Unternehmen haben Partnerschulen, in denen sie ihre Ausbildungen vorstellen. Sie sind auf Messen dabei, veranstalten Tage der offenen Tür. Nicht zuletzt werden Jugendliche auch auf ihre eigene Art angesprochen: Die Musiker "Raze & Chino" rappen für den VCI einen Song über die Ausbildung in der Chemie-Industrie. "Mit sehr befriedigenden Klickzahlen bei YouTube", sagt Warstat.

Was die Nachwuchssuche erschwert, ist die Tatsache, dass Jugendliche - wie oft auch Erwachsene - ein eindimensionales Bild von der Branche haben. "Viele denken nur ans Chemielabor", sagt Warstat. Dabei finden sich dort ganz unterschiedliche Disziplinen wie die pharmazeutische Industrie, die Bereiche Tiergesundheit, Bauchemie, Klebstoffe oder die Mineralfarbenindustrie. Auch unter den rund 300 Unternehmen in den drei Nordländern gibt es so verschiedene Firmen wie den Kupferkonzern Arubis, den Reifenproduzenten Continental und den Desinfektionsmittel-Hersteller Bode.

"In dieser Branche kann man alles werden", sagt Alexander Warstat vom Arbeitgeberverband. Außer naturwissenschaftliche Berufe, wie den Chemielaborant, können junge Leute auch einen technischen Weg (Anlagenmechaniker) einschlagen, Bürokaufleute oder Fachinformatiker werden. Auch so "exotische" Ausbildungen wie die zum Koch sind in den Kantinen von Chemie-Unternehmen möglich. Und dann gibt es außer einem klassischen Chemiestudium auch die Möglichkeit, dual zu studieren - also Lehre und akademische Ausbildung zu vereinen.

Etwa 90 Prozent der Firmen sind kleine und mittelständische Unternehmen. Gerade die kleinen sind es, denen fehlender Nachwuchs als erstes Probleme bereitet. Im Jahr 2010 hatten im Nord-Verband von 952 Lehrstellen 20 nicht besetzt werden können. "Das klingt erst einmal nicht viel", sagt Warstat. "Aber für ein kleines Unternehmen kann das schon bedrohlich werden, wenn es nicht mehr die erforderliche Bewerberzahl hat." Dabei sei die Ausbildung bei einem Chemieunternehmen auf jeden Fall aussichtsreich.

Der VCI beurteilt auch die Situation von Nachwuchsakademikern, Chemikern wie Ingenieuren, positiv. In einigen Spezialgebieten werde die Nachfrage besonders ausgeprägt ausfallen - in der Toxikologie, der Elektrochemie, der Makromolekularen Chemie, den Materialwissenschaften und der Grenzflächenchemie und -physik.

Auch die Gehälter sind gut. Nach Angaben der Gesellschaft Deutscher Chemiker liegen die Mindestbezüge für Berufsanfänger im zweiten Jahr laut Tarif für akademische technische und naturwissenschaftliche Angestellte bei 55 450 Euro, für Angestellte mit Diplom oder Promotion bei 64 630 Euro.

Bei aller Euphorie über die Situation blickt aber auch die Chemie ernst auf die wirtschaftliche Entwicklung: "Die Liste möglicher Belastungen für die Weltwirtschaft und das Chemiegeschäft ist lang: Schuldenkrise in Südeuropa und den USA; Unruhen in Nordafrika und explodierende Ölpreise, Naturkatastrophe und Reaktorunfall in Japan, Inflationsängste und steigende Zinsen in Europa und Brasilien, Engpässe auf den Rohstoffmärkten und vielerorts ein aufkeimender Protektionismus", sagt VCI-Geschäftsführer Gerd Romanowski. Konkrete Anzeichen für baldigen Umschwung gebe es nicht.