Ein Kommentar von Torsten Schumacher

Hamburg. Als besonders fortschrittlich und modern glorifiziert, haben die sogenannten 360-Grad-Beurteilungen Einzug in unsere Unternehmen gefunden. Danach wird nicht nur durch die Vorgesetzten, sondern auch durch hierarchisch gleichgestellte Kollegen sowie die eigenen Mitarbeiter beurteilt. Rundum eben.

Mehr Richtungen erzeugen mehr Objektivität - auf diesen Nenner lässt sich die hiermit verbundene Hoffnung bringen. Die Hoffnung wird enttäuscht. Sie mag sozialromantisch motiviert sein; hat jedoch mit praktischer Vernunft und der betrieblichen Wirklichkeit nichts zu tun. Warum?

Zunächst ein Blick auf die Beurteilung unter Kollegen. Es ist in meinen Augen weltfremd, anzunehmen, dass sich Kollegen wohlwollend beurteilen, denn schließlich konkurrieren sie ja um das knappe Gut Karriereaufstieg. Wenn ich einen Kollegen gut bewerte, bringe ich mich genau damit möglicherweise um meine eigenen Aufstiegschancen.

Noch interessanter ist die Beurteilung durch die eigenen Mitarbeiter; sie wird - wie auch die Beurteilung unter Kollegen - anonym durchgeführt. Denn ansonsten würde es, so die gängige Rechtfertigung, das notwendige Maß an Offenheit nicht geben. Das ist das Problem: Beurteilungsinstrumente wie das 360-Grad-Feedback setzen eine Offenheit voraus, die durch sie erst geschaffen werden soll.

"Aber das können wir ja niemandem zumuten!" Dem Mitarbeiter nicht, der bei namentlicher Kritik um einen Kopf kürzer gemacht würde und dem Chef auch nicht, denn der würde ja bloßgestellt. Um es schnörkellos zu formulieren: Wer bei Beurteilungen auf Anonymität angewiesen ist, hat als Führungskraft versagt.

Anonyme Beurteilungen beschreiben die anonymisierte, graue Masse. Bloß nicht zu konkret. Das könnte ja wehtun. Durchschnittswert 2,8. Alles klar? "Sie liegen als Führungskraft im oberen Normbereich." Bedenken Sie: Wenn Sie einmal vorne und einmal hinten am Hasen vorbeischießen, ist er im Durchschnitt tot.

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