Voll im Leben - trotz Behinderung. Natalie Pinnisch, 23, hat HMSN und studiert Psychologie

Sie könnte es einfacher haben: zum Beispiel, indem sie sich kein Vollzeitstudium aufhalst, sondern in sechs statt drei Jahren ihren Bachelor in Teilzeit macht. Aber das ist nichts für Natalie Pinnisch. "Ich will meinen Psychologie-Abschluss in der Regelzeit schaffen", sagt sie. "Und wenn ich mir ein Ziel setze, dann will ich es auch erreichen."

Die 23-Jährige ist ehrgeizig, und Nichtstun findet sie furchtbar. Darum hat sie auch den Vorschlag eines Amtsarztes empört zurückgewiesen: Warum sie denn unbedingt arbeiten wolle, habe der sie gefragt. Sie sei doch gut versorgt. Auch heute noch kann sie sich über diesen Spruch aufregen. "Ich will doch nicht nur zu Hause rumsitzen!"

Sie hat schon immer was "in der sozialen Richtung" arbeiten wollen

Eine Ausbildung als Sozialversicherungskauffrau hatte Natalie Pinnisch im Sinn, als sie die Höhere Handelsschule besuchte. Später dann, auf dem Gymnasium kristallisierte sich der Wunsch heraus, Psychologie zu studieren. Sie habe immer schon etwas "in der sozialen Richtung" machen wollen. Später möchte sie als Psychotherapeutin mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen arbeiten.

"Ich glaube, es hat viel mehr Authentizität, wenn ich mit einem Behinderten spreche, als wenn ein gesunder Mensch zu ihm sagt: 'Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen.'" Außerdem kann es anderen Mut machen, ist sie überzeugt. "Ich bin ja noch viel stärker eingeschränkt als viele Querschnittsgelähmte", sagt sie. "Das nimmt einem Betroffenen ganz viel Angst, wenn er an mir sehen kann, dass das Leben auch so weitergeht."

Natalie Pinnisch hat die seltene Nervenkrankheit HMSN. Als sie fünf Jahre alt war, machten sich Bewegungsstörungen bemerkbar. Seit sie zehn ist, fährt sie in einem Elektro-Rollstuhl. Sie schreibt mithilfe einer virtuellen Tastatur und der Maus. Durch ihrem Rolli hat sich Natalie Pinnisch aber nie vom Leben abhalten lassen. "Schon zu Schulzeiten war mein kleines Zimmer ständig voller Leute", erzählt sie. Weil es für sie immer schwieriger war, woandershin zu kommen, seien ihre Freunde meistens zu ihr gekommen. Trotzdem ist die 23-Jährige gern unterwegs, auf Konzerten zum Beispiel. "Am liebsten HipHop und R & B."

Eine ihrer Schwestern ist auch an HMSN erkrankt, aber weniger schwer als Natalie. Warum die Krankheit so unterschiedlich verläuft, habe die Wissenschaft noch nicht erklären können, sagt die 23-Jährige. Aber sie hofft sehr, dass sie einmal eine Antwort auf dieses Warum erhält. "Mir ist das wichtig. Ich möchte den Grund unbedingt wissen."

Ebenso hartnäckig und mithilfe der Behindertenreferentin des Asta setzt sie sich als Erstsemester an der Uni durch. Nach zwei verpassten Vorlesungen hat sie erreicht, dass zwei Dozenten die Hörsäle tauschen - und sie ihre Veranstaltung in einem rollstuhlgerechten Saal besuchen kann. Die meisten Hörsäle an der Uni seien aber in Ordnung, sagt Natalie Pinnisch. Nur im Hauptgebäude gebe es noch einen Saal, in den sie mit dem Rollstuhl nicht hineinfahren könne.

Ab November unterstützt sie ein "FSJler" beim Studieren

Zur Hochschule bringt sie ein Fahrdienst. Und ab 1. November wird sie endlich auch einen Assistenten an der Seite haben. Er wird für sie im Seminar mitschreiben oder ihr beim Mittagessen in der Mensa oder beim An- und Ausziehen der Jacke helfen. Um das sogenannte persönliche Budget für den "FSJler" (Teilnehmer am Freiwilligen Sozialen Jahr) habe sie mit dem Landkreis Harburg aber ganz schön lange verhandeln müssen.

Und was passiert dann - wenn das Bachelor-Studium geschafft ist? "Meinen Master würde ich gern in Berlin machen", sagt Natalie Pinnisch. Am liebsten möchte sie dort mit ihrem Freund zusammenleben. Heute wohnt sie noch bei ihrer Familie. Die Chancen für einen gemeinsamen Wechsel in die Hauptstadt stehen aber gut: Auch ihr Freund ist gerade im ersten Semester, an der TU. "Ich bin optimistisch, was die Zukunft angeht", sagt Natalie Pinnisch. "Selbst wenn ich noch keine so ganz klaren Vorstellungen davon habe."