Voll im Leben - trotz Behinderung. Michael Müller ist Bogenschütze. 2012 will er olympisches Gold holen

Eine 18-jährge Fahranfängerin war es, die Michael Müllers Leben radikal verändert hat. Mit viel zu hohem Tempo raste sie auf regennasser Landstraße über eine Anhöhe, verlor die Kontrolle über den Wagen und stieß frontal mit Müllers Auto zusammen. 1995 war das. Der Ingenieur, damals Niederlassungsleiter Norddeutschland bei einem Automobilzulieferer, war auf Geschäftsreise im Münsterland. "Die Feuerwehr brauchte eine halbe Stunde, um mich aus dem Wrack herauszuschneiden", erzählt er. Sein rechtes Bein wurde 38-mal gebrochen.

Müller blieb bei Bewusstsein. "Im Krankenhaus angekommen habe ich dem Pfleger meine Blutgruppe und meinen Namen genannt, ihm gesagt, unter welcher Nummer er meine Frau erreichen kann - und erst dann bin ich ohnmächtig geworden." Das rechte Bein konnten die Ärzte retten, das linke musste nach einer Infektion unterhalb des Knies abgenommen werden.

Die Verursacherin des Unfalls hat Michael Müller nie wieder getroffen

Aber Michael Müller ist ein starker Typ, keiner der jammert oder andere anklagt. Sogar über die Unfallverursacherin sagt er: "Mir tut das Mädel leid." Aufgrund ihrer Kopfverletzungen sei sie heute schwer geistig behindert. "Es ist sehr traurig, dass das alles so ausgehen musste." Getroffen hat er sie nie wieder. "Ich hatte auch nicht den Wunsch danach."

Drei Jahre lang war Müller in der Reha, um körperlich wieder fit zu werden. Dort lernte er auch, mit einer Beinprothese zu gehen und zu schwimmen. Um Muskeln aufzubauen und seinen Gleichgewichtssinn zu trainieren, legten ihm die Ärzte das Bogenschießen nahe. "Erst wurde es ein Hobby, heute betreibe ich es als Leistungssport", erzählt der 53-Jährige. Mit großem Erfolg: Er gehört zur deutschen Nationalmannschaft, ist mehrfacher Deutscher Meister, wurde bei den diesjährigen Europameisterschaften fünfter und mit der Mannschaft vierter. "Leider gab es keine Medaille", bedauert er. Aber die will er 2012 bei den Paralympics in London holen.

In seiner alten Firma lief es indes nicht so gut: "Mit einer 80-prozentigen Schwerbehinderung konnten sie mich ja nicht kündigen", sagt Müller. "Stattdessen haben sie mir einen Job in Heilbronn angeboten, den ich einfach ablehnen musste." Man einigte sich auf eine Abfindung. Müller war ein halbes Jahr arbeitslos, lebte mehrere Jahre von befristeten Anstellungen, bis er Anfang 2001 eine Ausschreibung des Berufsförderungswerks (BFW) Hamburg entdeckte. "Die suchten einen Ingenieur für die Personalvermittlung", erinnert er sich. "Ich wusste gleich, das kann ich, und das liegt mir." Heute ist Michael Müller noch immer beim BFW, inzwischen aber als Ansprechpartner für Arbeitgeber. An sie sollen die Teilnehmer der Ausbildungen und Qualifizierungen im BFW nach dem Abschluss vermittelt werden.

Für richtige Hobbys bleibt Michael Müller nicht viel Zeit. Das Skifahren, das er anfangs noch mithilfe einer Sportprothese betrieb, hat er inzwischen aufgegeben. "Das Risiko war mir dann doch zu groß", sagt er. "Und was neben der Arbeit und den rund 20 Stunden Bogentraining pro Woche übrig bleibt, verbringe ich mit der Familie." Mit seiner Frau und den beiden Söhnen, 18 und 12 Jahre alt, lebt Müller in der Nähe von Lüneburg. "Meine Frau ist toll", sagt er. "Wann immer ich es brauche, bietet sie mir eine stützende Schulter." Zum Beispiel dann, wenn Michael Müller mal wieder seine "Grenzen auslotet", wie er es nennt - und stundenlang in den Bergen spazieren geht.

Ehrgeizig und hartnäckig sei er, sagt der gebürtige Schwarzwälder, der im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern nach Hamburg zog. "Die Prognose für mein rechtes Bein war damals auch nicht berauschend", sagt er. "Aber heute kann ich es trotzdem wieder zu 70 Prozent beugen."

"Wenn man will, geht vieles", davon ist er überzeugt. Und darum ist er heute auch wieder auf seinen Beinen unterwegs. "Die Berufsgenossenschaft wollte mir damals schon einen Rollstuhl verpassen", sagt Müller. Aber er habe immer darauf bestanden, dass das Gefährt nur "geliehen" sei. Nach einem Dreivierteljahr hat er den Rollstuhl nicht mehr gebraucht.

Solche Willensstärke versucht er auch anderen Unfallopfern nahezubringen - etwa im Krankenhaus Boberg, wo er selbst zur Reha war. Währenddessen entwickelte er auch einen guten Draht zu den Psychologen und Seelsorgern dort. Mehrfach hätten sie ihn schon gefragt, ob er sich nicht mal mit einem der Unfallopfer unterhalten könne, erzählt Michael Müller. "In deren Situation kann man sich so schwer vorstellen, was später alles wieder möglich sein wird", sagt er. Dass es doch wieder aufwärts geht, will er den Leuten gern zeigen.