Ein Kommentar von Mark Hübner-Weinhold

194 Minuten ist das Kinomelodram "Titanic" lang. Mehr als drei Stunden für eine an sich simple Geschichte: Romeo und Julia an Bord eines Passagierschiffes, das auf seiner Jungfernfahrt einen Eisberg rammt und sinkt. Romeo stirbt, Julia überlebt. Falls Sie dieses Epos noch nicht kennen, habe ich Ihnen jetzt bewusst die Pointe versaut.

Auf dieser Enthüllungs-Idee basiert das Buch "Der Schwan stirbt" von Robb Pearlman, dessen Erscheinen Bastei Lübbe für Ende Juni angekündigt hat. "Mit diesem Buch erkaufen Sie sich Lebenszeit!", wirbt der Verlag für den Titel.

Diese Zeile fesselte meine Neugier. Der Autor legt jeweils die imposante Schlussoktave dar, den Clou, die große Enthüllung von bedeutsamen Werken aus Film und Literatur in einem Satz. Einige Beispiele: Die unendliche Geschichte: Sie endet. Warten auf Godot: Sie warten vergeblich. Rocky: Er verliert. Rocky 2: Er gewinnt. Star Wars, Das Imperium schlägt zurück: Darth Vader ist Lukes Vater.

Dieses Buch passt perfekt in unsere Zeit und bedient Popkultur-Junkies der Generation Internet. Ich bekomme online immer alles, und zwar sofort. Eine Suchanfrage mit dem Stichwort "Titanic" bei Google ergab 275 Millionen Treffer nach 0,1 Sekunden. Schneller Einkauf der Blu-Ray-Disc mit zwei, drei Klicks - kein Problem.

Alles geht schneller. Und wird oberflächlicher. Wir gewöhnen uns durch das digitale Dauerfeuer auf PC und Handy daran, permanent auf mehreren Kanälen hin und her zu springen. Unsere Fähigkeit zur Konzentration sinkt dadurch, denn unser Gehirn kann sich konzentriert nur mit einer Sache gleichzeitig befassen.

Ständig werden wir auf unseren Bildschirmen durch akustische oder optische Signale auf neue E-Mails, Termine oder Produkte hingewiesen - und somit abgelenkt. Wir reagieren reflexartig darauf, weil unser Gehirn in Jahrmillionen der Evolution gelernt hat, neue Signale aufmerksam zu registrieren. Das kostet Energie, Konzentration und Geld. Denn effizientes Arbeiten ist kaum möglich.

In dieser hektischen Welt geht der Blick für das Wesentliche rasch verloren. Vor allem aber verlieren wir die Tiefe des Denkens und der Gefühle, weil wir oft nur noch an der Oberfläche der Dinge surfen. Warum sollte ich mich also der Pointe von Literatur- und Kinoklassikern berauben? 194 Minuten im Kino sind Lebenszeit - und ich genieße sie ganz bewusst.