Warum Arbeitgeber lebendige Leitlinien brauchen: Kürzungen bei den Mitarbeitern, aber mehr Geld fürs Management - das ist Beschäftigten nicht mehr zu vermitteln.

Abendblatt: Viele Unternehmen stellen heute einen Wertekanon für sich auf - doch Mitarbeiter wissen oft gar nicht, welche Werte sich ihr Arbeitgeber auf die Fahnen geschrieben hat. Studien belegen das. Warum ist das so?

Peter Fischer: Es ist eigentlich nicht so schwierig, Werte zu vermitteln - soziale Verantwortung zum Beispiel. Das Schwierige ist, Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Ein Arbeitgeber kann seinen Leuten viel erzählen und viele schöne Broschüren schreiben - aber wenn der Mitarbeiter sagt, "Das hat nichts mit mir zu tun", dann speichert er das einfach nicht ab. Die Schwierigkeit mit Werten ist, dass man sie nicht künstlich herstellen kann. Man muss Werte leben. Und wenn man sie dann aufschreibt und zu Unternehmensleitlinien ernennt, hat man auch die Mitarbeiter im Boot.

Abendblatt: Welche Werte wollen Unternehmen denn haben?

Fischer: Häufig geht es um Offenheit, Vertrauen, Integrität, Kundenorientierung oder Qualität. Es gibt eine Faustregel: Zwei Drittel der Werte, die in den Unternehmensleitlinien genannt werden, müssen bereits gelebt werden, ein Drittel kann man noch als Zielwert dazunehmen. Doch die Firmen schreiben als Leitlinie ihre Wunschliste auf - und fragen sich gar nicht, ob denn dieser Wert heute schon bei ihnen verankert ist. Sie fragen sich auch nicht, wie viele neue Werte sie eigentlich auf einmal etablieren können, ohne dass es Probleme in der Unternehmenskultur gibt. Ein Vorstandsgremium setzt sich zusammen, macht Brainstorming und denkt sich die Werte aus. Diese Wunschliste wird dann in die Kommunikationsabteilung delegiert. Die machen einen netten Flyer und eine Kick-off-Veranstaltung. Und dann lässt man das Thema wieder ruhen.

Abendblatt: Eine Kick-off-Veranstaltung ist Blödsinn?

Fischer: Wenn sie zur Show verkommt. Natürlich macht man eingangs Veranstaltungen mit Mitarbeitern, bei denen man erläutert, was gemeint ist, wenn man sagt: "Wir wollen mehr Transparenz." Aber dann muss man auch dafür sorgen, dass nicht nur von oben nach unten informiert wird, sondern dass man auch von unten nach oben Informationen erhält. Die Mitarbeiter müssen mir sagen, was sie selbst unter Transparenz verstehen. Außerdem muss man sich genau angucken, wie weit die Führungskräfte Transparenz leben.

Abendblatt: Wie viel Unternehmen machen's gut, wie viele schlecht?

Fischer: Leider ist es mehr als die Hälfte, die schlecht damit umgeht. Zwei Drittel würde ich sagen. Es ist ein bisschen wie mit dem Thema Frauen in Führungspositionen. Man sagt, man will es, aber in der Praxis geht das Thema wieder unter. Wenn Sie in einem Unternehmen tatsächlich Werte einführen wollen, muss Ihnen klar sein, dass Sie sich auf einen zwei- bis dreijährigen Prozess einlassen. Und dass der eine Menge Geld kostet. Denn man muss Kapazitäten dafür schaffen, Führungskräfte damit beauftragen, in die Diskussion gehen, über die Hierarchien hinweg Foren für Dialoge schaffen, Berater hinzuziehen, Fokusgruppen machen ... Es reicht nicht, seine Werte einmal aufzuschreiben.

Abendblatt: Hängt das Problem, seinen Mitarbeitern glaubhaft die Unternehmenswerte zu vermitteln, von der Firmengröße ab?

Fischer: Ja. Bei Mittelständlern, wo der Kontakt zwischen Mitarbeitern und Führung noch viel direkter ist, funktioniert das besser. In großen Organisationen ist inzwischen so eine Distanz entstanden zwischen der Mitarbeiterebene und der Top-Leitungsebene. Was die oben denken, wird unten gar nicht mehr verstanden. Und umgekehrt! Im Moment sinken das Vertrauen vieler Mitarbeiter in das Management und das Verständnis für die Geschäftsentscheidungen. Es ist klar, was es bedeutet, eine Mitarbeiterschaft zu haben, die auf Distanz geht und sich nicht mehr zum Unternehmen bekennt - in einer Zeit, in der man eigentlich gerade mehr Arbeitseinsatz braucht.

Abendblatt: Aber wenn es um den Erfolg geht - warum sollten sich Großunternehmen für Werte und gegen einen schnellen Gewinn entscheiden?

Fischer: Im Grunde ist das ein Konflikt zwischen Kurz- und Langfristigkeit. Das schnelle Geschäft gegen die Möglichkeit, meine Kultur in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Ein Unternehmen tut nur etwas, wenn es dem Zweck - und der ist, Ergebnisse zu erzielen - gerecht wird. Wenn ich aber überzeugt bin, dass ich dazu eine bestimmte Kultur brauche, dann entsteht dieser Konflikt erst gar nicht. Übrigens: 50 bis 60 Prozent der Vorstände sind sich dieses Konflikts bewusst. Und wägen sorgfältig ab. Es ist falsch zu glauben, wir haben hier lauter Führungskräfte sitzen, die nur profitorientiert und kurzsichtig sind.

Abendblatt: Viele Mitarbeiter haben den Eindruck, "die da oben" kommen mit falschen Entscheidungen durch, aber wer sich mal eine Bulette vom Buffet des Chefs nimmt, ist dran. Viele glauben, da wird mit zweierlei Maß gemessen.

Fischer: Wir haben auf den hohen Führungsebenen in den letzten Jahren eine Selbstbedienungsmentalität zugelassen, die nicht mehr vermittelbar ist. In dem Moment, wo man im Management sein eigenes Gehalt erhöht, während man auf niedrigeren Ebenen streicht, ist es mit der Glaubwürdigkeit und mit den Werten vorbei.