Ein gutes Arbeitsumfeld motiviert, ein schlechtes schädigt das Geschäft, sagt der Qualitätsexperte Dieter List.

Abendblatt: Herr List, Sie haben beim Energie- und Transportunternehmen Alstom eine Qualitätsoffensive geleitet. Welches Ziel haben Sie verfolgt?

Dieter List: Solche Initiativen haben immer ein Ziel - die Leistungskriterien von Kunden und Mitarbeitern zu erfüllen. Nehmen wir ein Auto: Es muss gut funktionieren und rechtzeitig ausgeliefert werden. Man muss also Produkt- und Prozessqualität optimieren. Aber Qualität wird durch Menschen gemacht. Also muss darüber hinaus auch die Unternehmenskultur funktionieren, damit die Mitarbeiter sich wohlfühlen und motiviert sind.

Abendblatt: Sie sind in Firmen gegangen und haben Stühle fotografiert. Warum?

List: Stühle sind eine wunderbare Metapher. Dafür, dass die Sensibilität fürs Detail eingeschlafen ist. Das Bild, das ich mithilfe der Stühle transportiere, versteht jeder: vom Arbeiter bis zum Manager. Man findet also in einer Fabrik oder einem Büro zwei Stühle von unterschiedlicher Qualität, in unterschiedlichem Zustand. Man stellt sie nebeneinander und fragt, warum ist das so? Das ist eine tolle Eröffnung für das Thema. Probieren Sie es aus: Schauen Sie sich in Ihrer Abteilung um!

Abendblatt: Was sagt Ihnen so ein Anblick dann?

List: Aufschlussreich sind zum Beispiel Besucherstühle. Erstaunlich oft - besonders in Werkshallen - sind sie relativ provisorisch. Mitunter findet man unbequeme Holzhocker, die zu sagen scheinen: Bleib ja nicht zu lange sitzen. Wenn Besucherstühle angenehm sind, ist es wiederum interessant, darauf zu achten, wie die Stühle der Mitarbeiter aussehen. Daran lässt sich durchaus ablesen, wie ernst es ein Unternehmen tatsächlich mit der Qualität und der Kundenorientierung meint. Denn wie sollen die Mitarbeiter hundertprozentige Qualität abliefern, wenn sie ewig auf einen neuen Schrank warten oder auf abgewetzten Stühlen sitzen müssen? Bei Maschinen denkt das Management viel eher daran, dass sie einmal ausgetauscht werden müssen. Geschäftsleitung, aber auch Mitarbeiter haben jedoch oft einen Tunnelblick.

Abendblatt: Damit meinen Sie ...?

List: Man hat einen gewissen Standard und eine Blindheit entwickelt. Das passiert. Aber aus diesem Tunnelblick muss man im Sinne der Qualitätssteigerung wieder einen Weitblick machen. Ich nenne das den "Tai-Chi-Blick". Ich muss wieder das Detail entdecken. Durch diese Überlegung kam ich auch auf die Thematik der Stühle.

Abendblatt: Aber ist es denn wirklich relevant, ob zwei Kollegen auf dengleichen oder unterschiedlichen Stühlen sitzen?

List: Es geht ja nicht nur um Stühle. Ich habe viele Fotos gemacht vom kompletten Umfeld. Wenn Sie eine Fabrik oder ein Büro zum ersten Mal betreten, bekommen Sie diesen klassischen ersten Eindruck. Ich glaube, das hat einen Einfluss auf die Vertrauensbildung der Kunden. Und auch auf den potenziellen Mitarbeiter, der zum Bewerbungsgespräch kommt. Mancher Unternehmer trifft sich mit dem Kunden lieber auswärts zum Essen: um von Dingen abzulenken, die er ihm nicht unbedingt zeigen möchte. Die Mitarbeiter aber sehen das jeden Tag - und das überträgt sich auf die Motivation.

Abendblatt: Was sind nun Merkmale für gute Qualität?

List: Ganz pragmatische Dinge. Die Offenheit von Büros, das Licht, ergonomische Möbel, die Atmosphäre als solche, die Kommunikationsfreundlichkeit. Doch mancherorts, zum Beispiel in Lagern entsteht über die Jahre ein Eigenleben. Dort hängen Bilder, stehen Trophäen und irgendwelche Hobby-Artikel. Das muss wieder aufgerüttelt werden.

Abendblatt: Warum? Ist Individualität nicht gut fürs Arbeitsklima?

List: Ein privates Bildchen hier und da lehne ich gewiss nicht ab! Ein bisschen Individualität ist in Ordnung. Aber wenn es extrem wird, ist das nicht mehr von Vorteil. Ich habe rund um Schreibtische schon wahre Dschungel gesehen! Man lässt sich mit Pflanzen zuwachsen - und isoliert sich damit gedanklich von der Umwelt. Eine gewisse Einheitlichkeit und Standardisierung in der Arbeitsumgebung bedeutet auch, flexibel zu sein. Mitarbeiter, die über Jahre in ihrem heimeligen Wohlgefühl dasitzen, tun sich schwer, in einen anderen Arbeitsbereich zu wechseln. Heute ist es nicht mehr "State of the Art", sich an seinem Arbeitsplatz häuslich einzurichten. Die Möbel, das ganze Umfeld muss Flexibilität widerspiegeln. Dann erreicht sie auch die Köpfe der Leute.

Abendblatt: Welchen Gewinn zieht ein Unternehmen daraus?

List: Durch weltweite Befragungen wissen wir, dass die Zufriedenheit der Mitarbeiter wächst, wenn auch den Details Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich gehe immer erst mal durch ein Unternehmen und stelle mir vor, wie es auf mich wirken würde, wenn ich ein neuer Mitarbeiter wäre. Und wie ich es finden würde, wenn ich ein potenzieller Kunde wäre. Und drittens - ganz kritisch - nehme ich in Gedanken meine Schwiegermutter oder meinen Nachbarn mit. Wie würden sie den Betrieb erleben? Dort kann man ansetzen. Meist gibt es aber kein Budget für so etwas, außer die Dringlichkeit wird erkannt. Dabei liegen die Kosten für eine gute Arbeitsumgebung im Promillebereich der Personalkosten. Da rangiert man im Investitionsbereich von 500 bis 1000 Euro pro Mitarbeiter pro Jahr, um ein gutes Umfeld zu schaffen. Das sollte wohl drin sein!