Pseudoharmonie bringt niemanden weiter, sagt der Experte für Kommunikation. Streiten Sie - aber mit Respekt!

Abendblatt: Streiten Sie eigentlich gern, Herr Schulz von Thun?

Friedemann Schulz von Thun: Gern wäre wirklich zu viel gesagt, ich habe einen eher harmoniebedürftigen Charakter und musste die Streitbarkeit erst lernen. Aber hin und wieder ist ein Streit etwas Wunderbares. Man gerät aneinander! Menschen möchten nicht nur immer sachliche Distanz haben, schon gar nicht im Privatleben. Und wenn beide zu sich selber stehen, zu ihren Bedürfnissen und Werten, dann liegt es in der Natur der Sache, dass Gegensätze aufeinanderprallen. Dauerhafte Harmonie kann es nur geben, wenn mindestens einer sich nicht ernst und wichtig nimmt, um des lieben Friedens willen prophylaktisch nachgibt. Aber das ist Pseudoharmonie, und es brodelt im Untergrund.

Abendblatt: Aber kommt man im Job nicht auf harmonischem Wege zu besseren Ergebnissen? Muss es denn auch da manchmal "knallen"?

Schulz von Thun: Wenn im Team eine gute Streitkultur herrscht, darf es gern auch mal "knallen" - wenn!

Abendblatt: Was braucht denn gute Streitkultur?

Schulz von Thun: Erstens das gemeinsame Credo: Es lohnt sich, Themen, bei denen wir nicht nur ein Herz und eine Seele sind, auf die Tagesordnung zu setzen! Zweitens, dass die Mitarbeiter sich trauen, ihre innere Wahrheit zur Sprache zu bringen. Auch wenn sie annehmen müssen, dass sie sich damit nicht nur Freunde machen. Sie müssen darauf vertrauen dürfen, dass sie dafür nicht zur Schnecke gemacht oder ausgegrenzt werden. Und drittens braucht jeder bei Standpunkten, die er eigentlich total ablehnt und widersinnig findet, die innere Haltung: Jetzt will ich mich einmal für deine Wahrheit interessieren! Nicht dass ich einverstanden wäre - vielleicht werde ich später noch vehement dagegenhalten. Aber ich will deinen Standpunkt erst mal verstehen und nachvollziehen. Vielleicht entdecke ich dabei sogar etwas, das meinen Standpunkt bereichert: "Die Wahrheit beginnt zu zweit", hat Nietzsche gesagt. Wenn diese drei Qualitäten von einem Team gelebt werden, sind wir schon ordentlich ein Stück weiter.

Abendblatt: Wenn es stattdessen "pseudoharmonisch" oder verletzend aggressiv zugeht - ist das dann ein Problem der aufeinanderprallenden Charaktere oder ein Problem der Unternehmenskultur?

Schulz von Thun: Die Kultur des Miteinanders ist eine Aufgabe der Führung. Es hängt stark vom Leiter ab, welche Atmosphäre in einem Team herrscht und welche Umgangsformen üblich werden. Darum sollten Führungskräfte Vorbild sein, indem sie selbst kein Blatt vor den Mund nehmen, dies aber mit Respekt, Sensibilität und Empathie verbinden. Außerdem sollten sie in Teamrunden dazu ermutigen, jeder möge sagen, wie ihm in Bezug auf das aktuelle Thema ums Herz ist, und auch die unbequemen Wahrheiten, die er in sich spürt, aussprechen. Nach dem Motto: "Wahrheit geht vor Schönheit!" Auch was nicht gesagt wird, aber "in der Luft liegt", sollte der Leiter unerschrocken aufgreifen. Mit der Zeit ist Vertrauen aufgebaut, und man darf optimistisch sein, dass Harmonie und Verständigung als Erntefrucht eines produktiven Streits genossen werden können.

Abendblatt: Wie bleibt man auch im Konflikt cool und souverän?

Schulz von Thun: Wenn ich selber im Streit bin, ist Souveränität fast zu viel verlangt. Es ist menschlich, dass ich mich dann angegriffen fühle und meine soziale Intelligenz vorübergehend rapide absinkt. Trotzdem würde ich "Souveränität" für erstrebenswert halten, aber eine Souveränität höherer Ordnung, bei der ich mich vom Ehrgeiz verabschiede, alles zu jeder Zeit cool im Griff zu haben. Mir kann auch mal der Kragen platzen, und vielleicht muss ich mich dafür später entschuldigen. Das bricht aber keinen Zacken aus der Krone der Souveränität, sondern setzt die Krone erst richtig aufs Haupt.

Abendblatt: Wie kann man sich auf ein Gespräch vorbereiten, wenn man ahnt, dass man mit jemandem aneinandergeraten wird?

Schulz von Thun: Indem man vorab eine Selbstklärung mithilfe des Kommunikationsquadrats vollzieht. Es besagt, dass jede Äußerung vier Seiten hat: eine Sachinformation - worum es mir thematisch geht -, eine Selbstkundgabe - wie mir dabei ums Herz ist -, eine Beziehungsbotschaft - wie ich zu dir stehe, was ich in Bezug auf das Thema von dir halte - und schließlich der Appell - was ich bei dir erreichen möchte. Das alles steckt schon in einem einfachen Satz wie: "Ich habe gestern die erbetenen Unterlagen nicht erhalten!" und bietet Raum für Missverständnisse und Turbulenzen auf der falschen, nicht gemeinten Ebene. Wenn ich das, was ich im Gespräch zur Sprache bringen möchte, vorab mithilfe dieses Kommunikationsmodells auf den Punkt bringe, gewinne ich eine vierfache Klarheit: Was will ich zur Sache klären, was will ich von mir selbst preisgeben, wie lautet meine Du-Botschaft, und wie will ich sie formulieren, und welche Bitte oder Forderung möchte ich deutlich machen? Wenn ich dann noch darüber nachdenke, wie diese Aussagen beim Gegenüber ankommen - da kommt dann das Vier-Ohren-Modell ins Spiel -, kann ich schon im Vorfeld manches Missverständnis erahnen und verhindern. Im lebendigen Gespräch darf es dann auch drunter und drüber gehen, aber mein innerer Leitfaden lässt mich gerade dann nicht im Stich.