Ein Kommentar von Mark Hübner-Weinhold

Thomas Müller redete auf ihn ein, schrie ihn an, ging zurück und wieder vor, schubste ihn weg und schimpfte. Dann spritzte er sein Wasser auf den Rasen, drehte sich um und ließ Anatoli Timoschtschuk zurück. Der Ukrainer schaute zu Boden, schüttelte die ganze Zeit den Kopf und blieb stumm. Der Fußballer, Profi in Diensten des FC Bayern München, weigerte sich beharrlich, beim Elfmeterschießen gegen den FC Chelsea anzutreten.

Timoschtschuk war nicht der Einzige, den die Angst vorm Versagen packte. Arjen Robben, Toni Kroos und Daniel van Buyten, allesamt wie Timoschtschuk Nationalspieler, meldeten sich nicht freiwillig für das Elfmeterdrama, sodass sogar Torwart Manuel Neuer als dritter Schütze antreten musste.

Welch absurde Situation im Champions-League-Finale. Mehrere austrainierte Profis, Männer, die mit ihrem Beruf jährlich mehrere Millionen Euro verdienen, die rundum versorgt und betreut werden, damit sie 90 oder auch mal 120 Minuten Höchstleistung bringen, sind zu feige, im entscheidenden Moment Verantwortung zu übernehmen und blicken verschämt zu Boden, damit bloß dieser Kelch an ihnen vorübergehe.

Wer kann sich solch ein Verhalten in anderen Berufen leisten? Stellen Sie sich einmal den Herzchirurgen vor, der während der Operation plötzlich kneift: "Diesen Bypass lege ich nicht, das soll jemand anders machen." Den MEK-Beamten, der seine Kollegen bei der Erstürmung eines Gebäudes allein lässt. Den Seenotretter, der sich weigert, bei Windstärke 10 rauszufahren, um Schiffbrüchige zu bergen.

Auch bei anderen, weniger spektakulären Tätigkeiten übernehmen Menschen, die einen Bruchteil dessen verdienen, was Fußballprofis kassieren, enorme Verantwortung: Piloten, Zugführer, Kranken- und Altenpfleger, Kraftwerksingenieure, Lebensmittelkontrolleure zum Beispiel.

Es geht nicht um eine Neid-Diskussion über Gehälter. Es geht darum, dass millionenschwere Profis nicht den Mumm haben, im entscheidenden Moment das zu tun, was sie gelernt haben und wofür sie bezahlt werden. Verschießen kann jeder mal, aber Schießen müsste jeder von ihnen wollen. Sonst sind sie ihr Geld nicht wert.