Hamburg. Rückfahrassistent, Notbremsassistent, Spurhalteassistent, Intelligenter Geschwindigkeitsassistent, Abbiegeassistent, Müdigkeitsassistent – um die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr zu reduzieren, werden Fahrzeuge mit immer mehr technischen Systemen hochgerüstet, die den Autofahrer warnen oder bei Gefahr gar automatisch in das Geschehen am Steuer eingreifen. Viele dieser Systeme sind auch notwendig, um das autonome Fahren voranzutreiben und sie stehen kurz davor, zur Standardausstattung zu werden. So müssen von Juli an neue Fahrzeugtypen, die in der EU auf den Markt kommen, zwingend mit diesen Assistenzsystemen ausgestattet sein. Von 2024 gilt das für jedes fabrikneue Fahrzeug, das für den Straßenverkehr zugelassen wird. Es ist ein riesiger Markt für die Automobilzulieferer.
Fahrer-Assistenzsysteme: Hamburger entwickeln System, das Fahrer wach hält
In ihn steigt jetzt auch ein Hamburger Unternehmen ein, das bislang in einem anderen Bereich der Sicherheitstechnik tätig ist. Der Biometriespezialist Dermalog mit Sitz am Mittelweg in Rotherbaum und der Düsseldorfer Technologie- und Rüstungskonzern Rheinmetall haben ein Gemeinschaftsunternehmen (Joint Venture) gegründet, die Rheinmetall Dermalog SensorTec GmbH. Das neue Unternehmen, an dem die Hamburger mit 35 Prozent beteiligt sind, werde „innovativste biometrische Technologien“ an Fahrzeughersteller liefern, teilen die Mutterfirmen mit. Dermalog-Gründer Günther Mull betont: „Wir wollen dazu beitragen, schwere Unfälle und den Verlust von Menschenleben zu verhindern.“
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Der gesamte Fahrzeuginnenraum soll erfasst und überwacht werden
Derzeit noch in der Entwicklung ist laut Mull ein sogenanntes Driver Monitoring-System. Mittels einer Kamera, die das Gesicht des Fahrers erfasst, künstlicher Intelligenz und eines Radarsensors, der am Fahrzeughimmel installiert ist, soll damit der gesamte Fahrzeuginnenraum erfasst und überwacht werden. Zeigt der Fahrer Ermüdungserscheinungen? Fallen ihm schon die Augen zu? Telefoniert er verbotenerweise mit dem Handy am Ohr? Beobachtet er den Verkehr auf der Straße oder ist er abgelenkt und schaut woanders hin? All das soll das System erfassen, analysieren – und notfalls den Fahrzeuglenker warnen.
Zugleich kann das System erkennen, ob eine Person am Steuer sitzt, die den Wagen lenken darf – und eine Wegfahrsperre aktivieren, wenn das nicht der Fall ist. Die Innenraumüberwachung schlägt Alarm, wenn etwa ein Kind, ein Hund oder auch nur eine Handtasche im Wagen zurückbleibt, wenn der Fahrer ihn verlässt und abschließt.
Mull geht davon aus, dass die neue Gemeinschaftsfirma mit Sitz in Hamburg noch in diesem Jahr auf den Markt gehen wird. „Wir werden mit Einbausätzen zur Nachrüstung bereits zugelassener Autos anfangen“, sagt der Dermalog-Gründer. Die SensorTec GmbH sei aber bereits in Gesprächen mit großen Automobilbauern und mit Carsharing-Unternehmen. Die könnten mittels der Fahrererkennung etwa registrieren, ob tatsächlich der Kunde fährt, der das Auto gebucht hat. Oder eben den Nutzer über die Buchungs-App informieren, dass er etwas im Wagen vergessen hat.
Neue Sicherheits-Vorschriften in Sicht
Dermalog sei der Biometriespezialist im Joint Venture, entwickle die Software und die Prototypen der Hardware, Rheinmetall bringe seine Erfahrung in der Radarsensortechnik ein und habe als Automobilzulieferer beste Kontakte in die Branche, beschreibt Mull die Arbeitsteilung der ungleichen Partner in dem Joint Venture. Rheinmetall erwirtschaftete zuletzt mit weltweit fast 25.000 Beschäftigten annähernd sechs Milliarden Euro Umsatz. Die Hamburger brachten es nach den jüngsten veröffentlichten Zahlen im Jahr 2020 mit knapp 250 Beschäftigten auf etwa 60 Millionen Euro Erlöse im operativen Geschäft.
Gesetzliche Vorgaben dürften die Nachfrage nach solchen Sicherheitssystemen befeuern. „Wir gehen davon aus, dass in einigen Jahren in Europa auch die Innenraumüberwachung von Fahrzeugen gefordert sein wird“, sagt Günther Mull. Auch Rheinmetall verweist gegenüber dem Abendblatt auf die EU-Gesetzgebung und künftige gesetzliche Regelungen. Zusätzlich fordere „die Euro NCAP (European New Car Assessment Program) aus sicherheitstechnischen Gründen einen verstärkten Fokus auf die Fahrerüberwachung und die Erkennung zurückgelassener Kinder im Fahrzeuginnenraum.“
In Corona-Jahren schrumpfte Umsatz um 20 Prozent
Allerdings sind Systeme mit einer ähnlichen Funktion bereits auf dem Markt. Unter anderem BMW bietet Müdigkeitswarner in seinen Autos an. Die Firma Toyota Connected North America stellte vor wenigen Tagen ein System vor, dass unter anderem Kinder und Hunde im Wagen-Innenraum identifizieren könne. Bei Rheinmetall heißt es mit Blick auf den Wettbewerb: „Das Joint Venture befindet sich in einem wettbewerbsfähigen Marktumfeld.“ Dermalog verfüge über eine sehr sichere Technologie und arbeite bereits sehr intensiv mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zusammen. Auch Rheinmetall verfüge über die notwendige Sicherheits-Infrastruktur. Der Konzern betont: „Das Joint Venture entwickelt Produkte Made in Germany und hat die höchsten Ansprüche im Hinblick auf Datensicherheit.“
Für Dermalog, an dem die Bundesdruckerei und damit der deutsche Staat zu 22 Prozent beteiligt ist, kommt ein weiteres Geschäftsfeld mit verheißungsvollen Aussichten gerade recht. In den beiden ersten Corona-Jahren lag der Umsatz jeweils um etwa 20 Prozent unter den 76 Millionen Euro von 2019. Dermalog verkauft und installiert weltweit vor allem Personen-Identifikationssysteme mit Augeniris-Erkennung und Fingerabdruck-Scannern. „Reisen unserer Beschäftigten zu Kunden im Ausland waren lange Zeit gar nicht möglich“, sagt Mull. Zeitweise gab es Kurzarbeit im Unternehmen, deshalb hätten Entlassungen vermieden werden können, so der Gründer.
Zwar hatte Dermalog kurz vor Ausbruch der Pandemie im Spätwinter 2020 gerade ein kamerabasiertes Körpertemperatur-Messsystem auf den Markt gebracht, doch das half nur begrenzt. „Mit den Thermalkameras haben wir guten Umsatz gemacht, insbesondere in den USA. Aber das konnte den Rückgang der Erlöse nur in Grenzen halten“, so Mull. Und: Schon nach einem Jahr habe sich das Marktfenster im Frühjahr 2021 wieder geschlossen, weil dann genügend Corona-Tests verfügbar waren. Inzwischen sei das Unternehmen zurück auf dem Weg zur Vor-Corona-Normalität. Mull sagt: „Das Umsatzniveau von 2019 haben wir aber noch nicht ganz wieder erreicht.“
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