Berlin. Rund 150 digitale Versicherungs-Start-ups, sogenannten Insurtechs, gibt es mittlerweile in Deutschland. Sie mischen die Branche auf.

Als Christian Wiens am Ende seines Studiums einen Schaden bei seinem Vermieter verursachte, stellte er sich plötzlich die Frage: Wie bin ich denn eigentlich versichert? Schließlich musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass er gar nicht mehr in der Haftpflichtversicherung seiner Eltern eingeschlossen war. Doch zwischen dem verursachten Schaden und dieser Erkenntnis standen zunächst diverse Aktenordner in seinem Elternhaus.

Wiens beschloss, dass das nicht die Lösung sein konnte. „Meine Idee war dann, ein Unternehmen aufzubauen, das es jungen und digitalaffinen Menschen sehr viel einfacher macht, überhaupt mit dem Thema Versicherung in Kontakt zu kommen“, erzählt der studierte Maschinenbau-Ingenieur. Wiens gründete gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Marius Simon den digitalen Versicherer Getsafe.

149 Insurtechs in Deutschland

Sie legten damit den Grundstein für ein Unternehmen, das heute mehrere eigene Versicherungen anbietet, über 250.000 Kunden und Kundinnen verzeichnet und seit Kurzem auch eine Lizenz der Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hat. Alle Versicherungen, von Hausrat über Haftpflicht bis hin zu Kfz können innerhalb von Minuten am Smartphone abgeschlossen werden.

Getsafe ist eines von vielen Insurtechs, die seit einigen Jahren den Versicherungsmarkt aufmischen. Der Begriff Insurtech setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Insurance, also Versicherung, und Technologie. „Insurtechs sind technologiegetriebene Neugründungen im Versicherungsbereich, die einen neuen digitalen Ansatz haben, um Produkte besser, passgenauer und leistungsfähiger zu machen“, sagt Nikolai Dördrechter, Insurtech-Experte und Co-Autor des „InsurTech-Radar“, der von Policen Direkt und der Unternehmensberatung Oliver Wyman herausgegeben wird. Aktuell gibt es laut der Studie 149 Insurtechs in Deutschland, Tendenz steigend.

Versicherungsbranche ist bei Digitalisierung spät dran

„Die Versicherungsbranche ist in puncto Digitalisierung eine der letzten“, sagt Dördrechter. Das liege vor allem an den traditionellen Vertriebsstrukturen, die die Prozesse häufig langwierig und kompliziert machten. Die Insurtechs wollen das ändern. Dabei ließen sich drei unterschiedliche Ansätze beobachten, erläutert Dördrechter.

Während einige der Start-ups, so wie auch Getsafe, eigene Versicherungsprodukte anbieten, fokussieren sich andere auf den Vertrieb nicht-eigener Policen und bieten darüber hinaus weitere Serviceleistungen an. „Ein dritter Bereich von Insurtechs beschäftigt sich mit der Entwicklung von Technologien, um Teile oder auch den gesamten Betrieb eines Versicherungsunternehmens zu verbessern“, sagt Dördrechter.

Getsafe erhält 2021 Bafin-Lizenz

Vor allem zu Beginn der Insurtechs in Deutschland hätten viele der Unternehmen auf den Vertrieb fremder Produkte gesetzt, erklärt der Experte. Auch Getsafe startete zunächst als Versicherungsmakler. Ein Jahr nach der Gründung beschlossen Wiens und Simon allerdings, eigene Versicherungen anbieten zu wollen.

„Wir haben gemerkt, dass es zwar nicht schlecht ist, Versicherungen zu vertreiben, aber im Kern nichts an den wirklichen Problemen ändert“, erzählt Wiens. „Also haben wir gesagt: Wenn wir wirklich etwas an der gesamten Erfahrung für die Kunden ändern wollen, dann müssen wir selbst zum Versicherer werden.“

2017 bringt Getsafe daher die erste eigene Versicherung auf den Markt – zunächst als Assekuradeur, das heißt als Vertreiber von Policen, bei denen ein anderer Versicherer der Risikoträger ist, seit 2021 auch mit eigener Bafin-Lizenz. „Das ist natürlich ein großer Meilenstein für uns“, sagt Wiens. Mit der eigenen Lizenz will das Unternehmen nun die Expansion in Europa vorantreiben.

Versicherungsmakler Clark verzeichnet fast 500.000 Kunden

Anders als bei Wiens und Getsafe, war für Christopher Oster von Anfang an klar, dass er keine eigenen Versicherungen anbieten, sondern einen digitalen Versicherungsmakler schaffen wollte. Weil er seine eigenen Versicherungen sortieren wollte und keine geeignete Lösung dafür fand, gründete er 2015 gemeinsam mit Steffen Glomb, Marco Adelt und Chris Lodde das Unternehmen Clark.

„Versicherungen können ein nerviges Thema sein, denn eigentlich ist jedem klar, dass es wichtig wäre, die richtigen Versicherungen zu haben, aber viele wissen eben gar nicht, wie sie das Thema angehen sollen“, erzählt Oster. Genau das wollte er mit Clark ändern.

Über Clark können Kunden und Kundinnen ihre Versicherungen verwalten, abschließen, kündigen oder auch Schäden melden – alles in einer App und komplett digital. „Wir wollen die digitale Anlaufstelle für alle Versicherungsthemen sein“, fasst Oster zusammen. Mittlerweile kann Clark fast 500.000 Kunden und Kundinnen verzeichnen – auch dank ungewöhnlicher Werbestrategien. „Wir haben natürlich einen großen Erklärungsbedarf bei unserem Konzept“, sagt Oster. Aus diesem Grund setzt man bei Clark unter anderem auf Influencer-Werbung, bei der die App ausführlich erklärt werden könne.

Nicht nur junge Menschen sind Zielgruppe der Insurtechs

Auch wenn damit besonders junge Menschen erreicht werden, sind diese nicht die einzige Zielgruppe der Insurtechs. „Clark richtet sich an digitalaffine Menschen, also zum Beispiel an jeden, der sein Hauptbankkonto online führt“, sagt Oster. Und das seien ungefähr 55 Prozent der Deutschen, mit steigender Tendenz. Im Durchschnitt seien die Kunden und Kundinnen zwischen 35 und 40 Jahren alt.

Langfristig sei es, vor allem für Insurtechs, die eigene Produkte anbieten, interessant, junge Menschen zu gewinnen, um mit diesen zu wachsen, sagt auch Experte Dördrechter, „aber für den Moment ist es finanziell sicherlich spannender, jemanden zu haben, der vielleicht schon eine Familie, ein Haus und ein Auto mit dem entsprechenden Versicherungsbedarf hat.“

Bereits zwei Einhörner unter Insurtechs

Clark gelang bereits ein wichtiger Schritt: Durch die Übernahme der Finanzen Group, einer Plattform für Informationen rund um Versicherungs- und Finanzprodukte, wurde das Unternehmen bereits im November 2021 zum Einhorn, also zu einem Start-up mit einer Unternehmensbewertung von über einer Milliarde Euro. Auch das Berliner Insurtech Wefox konnte in einer Investoren-Runde 650 Millionen Dollar einsammeln und steigerte seinen Marktwert damit auf drei Milliarden Euro.

Doch haben die digitalen Start-ups langfristig eine Chance gegen die etablierten Versicherer? „Wenn man sich die jedes Jahr in Deutschland abgeschlossenen Versicherungen anschaut, dann machen Versicherungsprodukte von Insurtechs sicherlich einen sehr geringen Anteil aus“, sagt Dördrechter.

Dennoch seien Insurtechs mittlerweile nicht mehr aus der Versicherungsbranche wegzudenken. Wurden sie am Anfang von den Vorstandsetagen der großen Versicherer noch belächelt, säßen sie nun völlig selbstverständlich mit diesen an einem Tisch, erklärt der Experte. Denn: „Die eigentliche Relevanz der Insurtechs besteht darin, dass sie die in großen Teilen gemütlich schlafende Versicherungsbranche aufgeweckt haben.“

Insurtechs haben Digitalisierung der Versicherungsbranche beschleunigt

Plötzlich hätten die großen Versicherungsgesellschaften erkannt, dass Versicherung auch digital möglich sei, sagt Dördrechter: „Die Insurtechs haben die Digitalisierung der Versicherungsbranche auf diese Weise extrem beschleunigt.“ Dabei half auch das Coronavirus: „Die Pandemie hat sicherlich auch noch mal einen Schub gegeben.“

Dördrechter ist überzeugt, dass die großen Versicherungsgesellschaften noch über viele Jahre hinweg den Markt bestimmen werden. „Bis die Insurtechs so gewachsen sind, dass sie die Größe und Finanzstärke haben, das Produkt- und Dienstleistungsangebot kontinuierlich zu verbreitern und die Vorteile voll auszuspielen, die ein digitales Geschäftsmodell mit sich bringt, wird es noch dauern“, prophezeit der Experte. Sie hätten schon jetzt den Markt grundlegend verändert. Gerade bei Versicherungsmanagern und Vertriebsplattformen könne sich heute niemand mehr vorstellen, wie es mal ohne sie war, sagt Dördrechter.

Auch die Insurtechs haben noch viel vor. Oster will mit Clark der größte Versicherungsmakler Europas werden. Und auch Getsafe will weiter in Europa expandieren und sein Portfolio ausbauen. Als Nächstes sollen Berufsunfähigkeits- und Krankenversicherungen folgen.