Seoul. Samsung-Erbe Lee Jae-yong gilt als mächtigste Person in Südkorea. So mächtig, dass seine Haftstrafe wegen Korruption verkürzt wurde?

In Südkorea gilt nicht der Präsident als mächtigste Person im Land, sondern der Boss von Samsung. Der Eindruck bestätigt sich dieser Tage: Lee Jae-yong, Chef des Multikonzerns, der Smartphones, Kühlschränke, TV-Geräte und vieles mehr produziert, wird zum wiederholten Male frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen.

Die „nationale ökonomische Situation und der globale wirtschaftliche Kontext“ in der Pandemie seien der Grund, warum Lee seit diesem Freitag wieder ein freier Mann ist. So erklärte es Justizminister Park Beom-kye Anfang der Woche in einer landesweit ausgestrahlten TV-Ansprache. Ungefähr 800 weitere Personen werden ebenfalls den Gang aus dem Gefängnis antreten können, wenn in Südkorea zum nationalen Unabhängigkeitstag am 15. August traditionell Begnadigungen ausgesprochen werden.

Aber der mit Abstand bekannteste, bedeutendste und umstrittenste Fall ist der von Lee Jae-yong. Der 53-jährige Erbe des Apple-Rivalen ist die mit Abstand reichste Person in dem ostasiatischen Industriestaat. Allgemein heißt es im Land, es sei nicht nur Lees finanzieller Wohlstand, der in Südkorea unübertroffen ist, sondern auch seine Macht. Der wegen Korruption zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilte Lee Jae Yong, ist auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden. Er saß seit Januar in Haft.

Präsidentin für Fusionsgenehmigung bestochen

Lee soll die vorige Präsidentin Park Geun-hye für die Genehmigung einer Firmenfusion bestochen haben und derzeit ist ein weiteres Verfahren wegen Aktienpreismanipulation anhängig. Er war im Zuge eines Bestechungs- und Veruntreuungsskandals im Jahr 2017 bereits zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Nach einer Berufung kam er jedoch 2018 frei. Das Oberste Gericht von Südkorea ordnete später die Wiederaufnahme des Verfahrens an.

Der Samsung-Konzern hat einen Jahresumsatz von 260 Milliarden Dollar (220 Milliarden Euro), das entspricht einem Fünftel der südkoreanischen Wirtschaftsleistung. Immer wieder aber wird im Land gestöhnt, Samsung missbrauche seine Kraft zu politischer Macht. Südkoreaner nennen ihr Land oft zynisch „Samsung-Republik.“

Fast jede Person konsumiert hier auf irgendeine Art Produkte und Dienstleistungen von Samsung: ob in Form eines Smartphones oder Flatscreens, beim Bewohnen einer von Samsung gebauten Wohnung oder beim Geborenwerden und Sterben in einem Samsung-Krankenhaus.

Seit Kurzem ist Samsung auch in der Hochkultur der größte Player. Im Frühjahr verkündete die Familie Lee, die 23.000 Werke umfassende Kunstsammlung des im vergangenen Oktober verstorbenen, jahrzehntelangen Samsung-Chefs Lee Kun-hee werde gespendet. Nun können die Koreaner die Picassos, Chagalls und koreanischen Nationalschätze in Museen bewundern.

Spende ans Gesundheitssystem, Milliardenzahlung für Erbschaft

Inmitten der Pandemie spendeten die Witwe von Lee Kun-hee sowie deren drei Kinder, von denen Lee Jae-yong der älteste ist, zudem eine Billion Won (750 Millionen Euro) für das Gesundheitssystem. So sollen seltene Krankheiten besser behandelt werden. Lesen Sie auch: Jair Bolsonaro: Brasiliens Präsident ist korrupteste Person 2020

All dies weiß die Öffentlichkeit sehr genau, weil Regierung und große Medienhäuser ausführlich darüber gesprochen und dafür gedankt haben. Gelobt wurde zuletzt außerdem, dass die Lees nicht versucht hätten, den vergleichsweise hohen Erbschaftssteuersatz von bis zu 60 Prozent zu umgehen, womit dem Staat nach dem Tod von Lee Kun-hee rund neun Milliarden Euro ins Haus stehen.

Es ist eine ungewohnte Generosität einer Familie, die ihren Reichtum unter anderem konsequenter Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu verdanken hat. So ist in Südkorea über die letzten Monate immer wieder diskutiert worden, wie dankbar man für die Steuerzahlungen und Gaben wirklich sein sollte. Und ob die Sache vielleicht einen Haken hat: nämlich, die Freiheit von Lee Jae-yong zu erkaufen.

Bei Samsung wird dies verneint. Auf Anfrage heißt es nur: „Die Rolle des Vize-Vorsitzenden Lee ist es, die strategische Richtung des Unternehmens zu steuern und durch seine Einsichten und sein globales Netzwerk von Unternehmensführern Entscheidungen für zukünftiges Wachstum zu treffen.“ Einfach ausgedrückt: Für die Geschicke von Samsung sei Lee äußerst wichtig.

Was für Samsung wichtig ist, ist für das ganze Land wichtig

Und was für ein Unternehmen vom Range Samsungs wichtig ist, so erkennen es viele in Südkorea an, hat für das ganze Land Bedeutung. In wohl keinem Industriestaat wiegt der Einfluss von Großunternehmen so schwer wie in Südkorea.

Die 64 größten „Chaebols“, familiengeführte Multikonzerne, stehen für Umsätze in Höhe von 84 Prozent der Volkswirtschaft. Daher forderte die führende konservative Zeitung „Joongang Ilbo“: „Hier sollte es um das nationale Interesse gehen.“ Deshalb: „Lee sollte lieber früher als später freigelassen werden.“ Viele andere Zeitungen argumentierten ähnlich.

Auch die Wirtschaft stellt solche Forderungen. Im Frühjahr baten die Vorsitzenden der fünf größten Industrieverbände den Präsidenten um die Begnadigung von Lee Jae-yong. Schließlich gehe Korea derzeit durch besonders schwierige Zeiten. Damit das Land gestärkt aus der Pandemie hervorgehen könne, brauche es Lees volle Handlungsfähigkeit.

Experten, die weder der Regierung noch Samsung nahestehen, schütteln den Kopf. „Das ist alles lächerlich“, sagt Park Sang-in, Wirtschaftsprofessor der angesehenen Seoul National University. Schließlich sei Lee Jae-yong im Gefängnis regelmäßig von seinen Anwälten besucht worden. „Das zeigt doch, dass er seine Aufgaben auch so wahrnehmen kann.“

Lee glänzt nicht mit unternehmerischen Erfolgen

Überhaupt zeichnet sich Lee Jae-yong, im Gegensatz zu seinem Vater, bisher nicht durch große Erfolge aus. In seine Ägide fällt neben brennenden Galaxy-Smartphones und Gerichtsprozessen um die Einschüchterung von Gewerkschaftern vor allem die Konsolidierung der Geschäfte. Durch Vorstoße in neue Bereiche, was über Jahrzehnte den Erfolg von Samsung ausgezeichnet hat, fällt der Konzern in letzter Zeit weniger auf.

Die Freilassung Lees ordnet sich in eine Reihe von ähnlichen Fällen ein. Der Chef des Autokonzerns Hyundai, Chung Mong-koo, musste 2007 für die Veruntreuung von Firmengeldern ins Gefängnis. Einige Monate später wandelte ein Gericht die dreijährige Haftstrafe um: Chung solle lieber 200 Stunden Freiwilligeneinsätze leisten und 700 Millionen Euro spenden. Ein Manager wie er sei zu wichtig, um hinter Gittern zu sitzen. 2010 wurde Chung vom konservativen Präsidenten Lee Myung-bak begnadigt.

Fünf Jahre später widerfuhr auch Chey Tae-won, Vorsitzender des Chemie-, Energie- und Pharmakonzerns SK, dieses Glück. Weil er 30 Millionen Euro veruntreut hatte, sollte ihm für vier Jahre die Freiheit entzogen werden. Die konservative Präsidentin Park Geun-hye gab sie ihm nach zwei Jahren zurück.

Großkonzerne: Ein „tief verwurzeltes Übel“

Parks liberaler Nachfolger Moon Jae-in kann sich das eigentlich nicht leisten. Auf dem Weg zum Wahlsieg 2017 nannte er die Chaebols ein „tief verwurzeltes Übel“. Schließlich stehen sie trotz ihrer Wirtschaftsleistung für kaum zehn Prozent der Jobs, halten durch ihre Marktmacht Start-ups klein und bremsen so das Wachstum. „Ich werde eine Reform der Chaebols angehen“, versprach Moon. Passiert ist kaum etwas.

Anfang Juni lud Moon hohe Vertreter von Samsung, Hyundai, SK und LG – die vier größten Chaebols – in den Präsidentenpalast. Ein Mitarbeiter verriet Medien, dass der begnadigte SK-Chef Chey die Freilassung von Lee gefordert hatte. „Ich verstehe Ihre Sorgen“, habe Moon gesagt. „Mir ist klar, dass in einer Zeit, in der sich das Geschäftsklima stärker als zuvor verändert, auch deutlichere Maßnahmen für die Wirtschaft nötig sind.“

Die Frage der Freilassung Lees sieht Professor Park Sang-in auch als eine zwischen Rechtsstaat und Wirtschaftspolitik. Demnach hat Zweitere gewonnen.