Berlin. Enge Unterkünfte, Verstöße bei Anfahrtswegen und Nachlässigkeiten: Ausgerechnet beim Konjunktur-Zugpferd tauchen gravierende Mängel auf.

Von Krise ist in der Bauwirtschaft keine Spur. Im Gegenteil. Trotz Pandemie läuft das Zugpferd der deutschen Wirtschaft unter Volllast. „Die Auftragsbücher sind voll, Überstunden an der Tagesordnung. Und das, obwohl die Wintermonate nicht zur Volldampfphase auf dem Bau gehören“, sagt Christian Beck, Abteilungsleiter für Bauwirtschaft in der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU).

Das spiegelt sich in den Zahlen wider. Wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte, ist der Umsatz der Branche in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres um 3,2 Prozent gestiegen. „Wesentliche Effekte der Corona-Krise auf Umsatz und Beschäftigung im Bauhauptgewerbe konnten nicht beobachtet werden“, hieß es von den Statistikern.

Einzig der Umsatz beim Bau von Straßen und Bahnstrecken ging leicht um 0,7 Prozent zurück, die anderen Bereiche boomen. Entsprechend verzeichnet die Branche auch bei der Anzahl der Beschäftigten ein Plus von 1,5 Prozent.

Wird auf Baustellen mit der Gesundheit der Arbeiter gespielt?

Doch Gewerkschafter wie Beck fragen sich, ob für diese Erfolge mancherorts nicht zu sehr mit der Gesundheit der Bauarbeiter gespielt wurde. „Während der ersten Corona-Monate haben sich zahlreiche Bauhelfer über mangelnde Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen auf Baustellen bei uns beschwert“, sagt Gerhard Citrich, Arbeitsschutz-Experte der IG Bau, „ich bekam hierzu fast täglich fünf bis sechs Anrufe aus dem ganzen Bundesgebiet. Einzelne Betriebe haben trotz Virus einfach weitergemacht wie bisher. Da hat sich zwischenzeitlich allerdings einiges getan. Aber bei Weitem noch nicht genug.“ #

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Zwar habe man insgesamt den Eindruck, dass die Bedeutung der Corona-Schutzmaßnahmen auch von den Arbeitgebern erkannt worden sei, sagt Citirich. Doch auch jetzt, im Lockdown, gebe es immer wieder „Corona-Sünden auf dem Bau“.

Das erinnert an den Beginn der Pandemie, als die Baustellen etwa in Österreich dichtgemacht wurden, in Deutschland aber nicht. Der Tenor unter den Arbeitern damals: Andere dürfen ins Homeoffice, wir müssen uns dem Virus aussetzen.

Arbeitgeberverband weist Vorwürfe zurück

Das blieb nicht folgenlos. Ein größerer Vorfall wurde etwa im August bekannt, als sich auf einer Baustelle am Frankfurter Flughafen 17 Arbeiter mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Dabei sind die Infektionszahlen im Vergleich zu anderen Branchen eher niedrig. Der Zentralverband Deutsches Baugewerbes (ZDB) erklärt das damit, dass die Arbeit hier primär im Freien stattfindet und die Beschäftigten daher in nur geringem Maße ansteckenden Aerosolen ausgesetzt sind

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Ein Mitarbeiter am Frankfurter Flughafen, der aus jobtechnischen Gründen anonym bleiben möchte und den Vorfall im August vor Ort miterlebte, hat eine unangenehme, zusätzliche Erklärung: „Es wird bei den Zahlen der Infizierung einfach nur der Fokus auf die Arbeitsstelle an sich gelegt.

Ausgeblendet aber werden die Anreise und die teilweise katastrophalen Zustände in den Unterkünften, weil die Maßnahmen dort nur schwer zu kontrollieren sind“, kritisiert er. Und mahnt: „Ja, es ist richtig, dass der Virus tendenziell eher von außen auf die Baustellen angeschleppt wird. Aber wenn man dort mit der Beobachtung endet, macht man es sich zu einfach.“

Flughafenmitarbeiter geht von hoher Dunkelziffer aus

So sei die Enge in Baufahrzeugen, in den Aufenthaltsräumen und den Unterkünften an vielen Stellen nach wie vor prekär. „Ganz ähnlich wie in der Fleischindustrie oder bei den Erntehelfern“, so der Flughafenmitarbeiter. Dementsprechend geht er in Bezug auf die Ansteckungen von einer hohen Dunkelziffer aus: „Für konkrete Zahlen ist die Fluktuation auf Baustellen auch einfach zu hoch. Das erschwert die Sache weiter.“

Arbeitsschutzexperte Gerhard Citrich weiß, dass die Zustände auf einzelnen Baustellen nach wie vor katastrophal sind. Manches wird seiner Meinung nach unter Verschluss gehalten: „Zum Teil fehlt ein grundlegendes Verständnis für Hygiene. Manche Baustellen haben nicht einmal fließend Wasser. Betroffene erzählen mir andererseits sogar von Chefs, die sich weigern, eine Maskenpflicht bei ihren Angestellten einzuhalten. Angeblich, damit die Arbeitsbrillen nicht beschlagen.“

Der ZDB weist diese „Pauschalvorwürfe“ der IG BAU als unbegründet zurück. „Die Bauunternehmen in Deutschland haben von Beginn der Corona-Pandemie an mit dem größtmöglichen Maß an Verantwortungsbewusstsein gehandelt und die Gesundheit ihrer Beschäftigten an die erste Stelle gestellt“, so Verbandssprecherin Ilona Klein. „Nach Aussagen der Berufsgenossenschaft BG BAU, die für die Überprüfung der Einhaltung von Arbeitsschutzstandards zuständig ist, konnten bei knapp 90 Prozent der Betriebe keine Mängel festgestellt werden.“ Im Vergleich zu Beginn des Corona-Krise habe sich die Situation zudem deutlich verbessert.

„Die Gefahr ist, dass der alte Schlendrian wiederkehrt“

Christian Beck von der IG BAU streitet das nicht grundsätzlich ab. Es sei eine höhere Sensibilität durch Sicherheitsunterweisungen und Hygienekonzepte eingetreten. „Doch das ist eine Daueraufgabe – gerade jetzt: in der aktuellen Lockdownphase, bei den explodierten Neuinfektionszahlen. Die Gefahr ist trotzdem, dass der alte Schlendrian wiederkehrt“, warnt er.

Ein Problem bei der Erfassung der Corona-Zahlen ist, dass zwei Drittel der in Deutschland auf dem Bau Beschäftigten aus dem Ausland stammen. „Sie sind selten gewerkschaftlich organisiert und die Sprachbarrieren hindern sie oft daran, sich bei Vorkommnissen an die eigentlich zuständigen Gesundheitsämter zu wenden“, sagt der Frankfurter Flughafenmitarbeiter.​