Börsenpräsident Friedhelm Steinberg über Altersvorsorge, das turbulente Jahr 2014 und die neuen Internettitel

Hamburg. Bis wenige Tage vor Jahresende war nicht absehbar, ob der deutsche Aktienmarkt das Jahr 2014 mit einem Plus oder einem Minus abschließen würde. Auf jeden Fall waren es ereignisreiche zwölf Monate, in denen der Leitindex DAX erstmals die Marke von 10.000 Punkten überwinden konnte. Das Abendblatt sprach darüber mit Friedhelm Steinberg, dem Präsidenten der Hanseatischen Wertpapierbörse Hamburg.

Hamburger Abendblatt:

In diesem Jahr haben wir mehrfach Schwankungen im DAX von mehr als 1000 Punkten innerhalb weniger Wochen gesehen. Warum ist der Markt so hoch nervös?

Friedhelm Steinberg:

Das ist wirklich nichts für schwache Nerven. Hier spüren wir besonders die Auswirkungen der vielen internationalen Krisenherde. Es fällt aber auf, dass die Ausschläge im DAX, auch der jüngste Abschwung, stärker ausfallen als etwa im US-Leitindex Dow-Jones. Dazu muss man wissen, dass mehr als 60 Prozent des Handelsvolumens in Frankfurt von Computerprogrammen für den Hochfrequenzhandel bestimmt werden. Ich denke, die besondere Schwankungsanfälligkeit hat aber auch damit zu tun, dass die Quote der Aktienanleger in der deutschen Bevölkerung wesentlich niedriger ist als in vielen anderen Ländern. Je breiter gestreut die Aktien sind, umso stärker werden Schwankungen gedämpft.

Wie sehen die Zahlen denn konkret aus?

Steinberg:

Die Anteile an den DAX-Unternehmen liegen im Schnitt nur zu ungefähr zwölf Prozent bei deutschen Privatanlegern – ich denke, die Enttäuschung über die Telekom-Aktie im vergangenen Jahrzehnt hat viel Vertrauen zerstört. Zu 64 Prozent gehören die DAX-Papiere ausländischen Investoren, zumeist großen Fonds. Anzumerken wäre in diesem Zusammenhang, dass sich die norddeutschen Titel vergleichsweise gut entwickelt haben: Der HASPAX notiert noch deutlich über dem Stand vom Jahresanfang.

Ist das Umfeld für den Aktienmarkt nicht eigentlich positiv? Volkswirte erwarten doch eine Erholung in der Wirtschaft im Verlauf des kommenden Jahres.

Steinberg:

Das ist richtig, aber die Psychologie spielt eine große Rolle. Die gleichen Sachverhalte können positiv oder negativ gesehen werden. Das gilt zum Beispiel für den kräftig gesunkenen Ölpreis: Er wirkt wie ein Konjunkturprogramm auf Deutschland, die Gewinne der Unternehmen dürften steigen. Auf der anderen Seite bringt der niedrige Preis Schwierigkeiten für die Öl fördernden Länder – nicht nur für arabische Staaten, sondern auch für die USA und für Russland. Dies könnte die deutschen Exporte beeinträchtigen. Im Moment werden eher die potenziell negativen Faktoren wahrgenommen, aber das kann sich auch wieder umdrehen.

Wie wird sich der Aktienmarkt im nächsten Jahr entwickeln?

Steinberg:

Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, das aktuell unterhalb von 13 liegt, rangiert die Bewertung der DAX-Titel unterhalb des langjährigen Durchschnitts. Analysten gehen außerdem überwiegend davon aus, dass die Unternehmensgewinne im kommenden Jahr zunehmen. Die Zinsen werden niedrig bleiben. Es spricht also alles für steigende Kurse, auch wenn ich weiter mit extremen Schwankungen rechne. Nach meiner Einschätzung wird der DAX im Jahr 2015 wieder über die Marke von 10.000 Punkten klettern. Ich wage aber nicht zu sagen, ob er auch zum Ende des Jahres in diesem Terrain notiert.

Ist die Schuldenkrise in Europa endlich überwunden?

Steinberg:

Es gelingt der Euro-Zone nicht, wieder richtig Tritt zu fassen. Und was die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer Niedrigzinspolitik und ihren Liquiditätsspritzen tut, ist lediglich ein Übertünchen der Probleme. Man müsste Europa grundsätzlich neu denken. Die überkommenen politischen Strukturen in Brüssel haben offenbar nicht genug Kraft, um das Ruder herumzureißen.

Was müsste denn geschehen?

Steinberg:

Brüssel müsste sich auf die wirklich wichtigen Dinge beschränken. Europa ist zu vielschichtig, als dass alles zentral geregelt werden kann. So hat man mit einer Flut von Regulierungen, die nicht immer tatsächlich im Interesse der Verbraucher waren, Vertrauen verspielt. Für eine solche Reform der politischen Struktur der EU setze ich auf eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments. Ich gebe aber zu: Ich bin nicht allzu optimistisch, dass so bald ein echter Wandel gelingt.

Zurück zum Aktienmarkt: Sind sie zuversichtlich, dass ihn auch Privatanleger wieder für sich entdecken?

Steinberg:

Ansätze dazu sind bereits zu sehen, aber das ist noch ein sehr zartes Pflänzchen. Tendenziell sind es eher die jüngeren Menschen, die sich – meist über Fonds oder Zertifikate – an den Aktienmarkt wagen. Gerade die Jüngeren werden um Aktien auch kaum herumkommen, wenn sie für das Alter vorsorgen wollen, denn die Zinsen werden auf nicht absehbare Zeit sehr niedrig bleiben. Bei längeren Anlagezeiträumen kann man mit Aktien eigentlich nicht falsch liegen – dafür sorgt allein schon die Dividendenrendite und die historische Erfahrung.

Wir haben seit dem Spätsommer mehrere große Börsengänge von Onlineunternehmen wie Zalando, Rocket Internet und in noch ganz anderer Größenordnung von Alibaba gesehen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Steinberg:

Man konnte schon etwas Sorge haben im Hinblick auf die Bewertungen, zu denen diese Aktien ausgegeben worden sind. Aber generell sind Online-Plattformen die Zukunft. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Anleger mit diesen Papieren auf längere Sicht glücklich werden. Man muss ein Investment in derartige Unternehmen dennoch als Risikokapital betrachten und Mut haben, denn nicht jedes dieser Geschäftsmodelle wird auf Dauer funktionieren. Allerdings ist bei diesen Börsengängen nur ein kleiner Teil der Aktien an Privatanleger gegangen.

Gibt es Parallelen zum Neuen Markt, der letztlich enorm viele Enttäuschte zurückgelassen hat?

Steinberg:

Die Unterschiede zum Neuen Markt sind sehr groß. Damals gab es einen regelrechten Hype mit einer Flut von Börsengängen auch kleiner Unternehmen, heute konzentriert es sich auf wenige große. Vor allem aber ist die Anlegerstruktur völlig anders. Um die Jahrtausendwende sind Privatanleger in großer Zahl auf den Zug aufgesprungen. Davon ist jetzt nichts zu sehen.

Die Bundesregierung plant ein neues Börsensegment für neu gegründete Firmen. Wie stehen Sie dazu?

Steinberg:

Ich bin dagegen, Standards zu lockern, wie das damals beim Neuen Markt geschehen ist. Wenn man das schon tun will, muss ganz deutlich gemacht werden, dass es sich hier um Aktien mit erhöhtem Risiko handelt – so etwa wie mit den Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen.

Wie ist das Jahr 2014 für die Hamburger Börse gelaufen?

Steinberg:

Im Anleihehandel ist der Umsatz wegen der niedrigen Zinsen spürbar zurückgegangen, im Aktien- und Fondshandel ist das Volumen dagegen knapp stabil geblieben. Insgesamt wird das Umfeld eher noch härter. So gewinnen die sogenannten Dark Pools, also der praktisch unregulierte Direkthandel zwischen Banken, immer mehr an Bedeutung. Wir sind trotzdem noch zufrieden und haben eine ordentliche Ertragslage. Zuletzt haben wir unsere Plattform für den Handel mit geschlossenen Fonds, auch mit dem Erwerb der Deutsche Zweitmarkt AG, erheblich ausgebaut, alle nennenswerten deutschen Banken sind jetzt angeschlossen. Ohnehin sind wir zuversichtlich für die nächsten Jahre, denn wir versuchen, weitere Nischen zu besetzen. Neue Börsensegmente sind schon in Vorbereitung.