Deutschland sollte Flüchtlinge offensiv aufnehmen. All jene, die sich hier eine bürgerliche Existenz aufbauen wollen, werden unser Land voranbringen – und auch unsere Wirtschaft

Hamburg. Was haben Friedrich der Große, Konrad Adenauer und Helmut Kohl gemein? Das von ihnen regierte Land profitierte zur jeweiligen Zeit erheblich von Flüchtlingen und Migranten. Zehntausende Hugenotten waren um das Jahr 1700 nach Pogromen und Religionsfehden aus ihrer überwiegend katholischen Heimat Frankreich geflohen, viele von ihnen ließen sich in Brandenburg-Preußen nieder. In Handwerk und Landwirtschaft, in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur trugen sie zu Preußens Glanz und Gloria entscheidend bei. Und sie dienten über Jahrhunderte in der Elite des deutschen Staates. Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière (CDU), führte Ostdeutschland in die deutsche Einheit. Sein Cousin Thomas de Maizière (CDU) leitete zunächst das Verteidigungsministerium, derzeit ist er Bundesinnenminister.

Konrad Adenauers und Ludwig Erhards „Wirtschaftswunder“ in den 50er- und 60er-Jahren wäre ohne Migration im großen Stil nicht möglich gewesen. Aus ganz Südeuropa – vor allem aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, aber auch aus Jugoslawien, der Türkei oder Marokko warb die Bundesregierung seit Mitte der 50er-Jahre ausländische Arbeitskräfte für die deutsche Industrie und Landwirtschaft an – „Gastarbeiter“ nannte man sie herablassend. Millionen von ihnen kamen aus vielen Ländern nach Deutschland. Sie stärkten die deutsche Wirtschaft und bereiteten das Land kulturell auf den Auf- und Ausbau der Europäischen Union vor, deren geografisches und wirtschaftliches Zentrum Deutschland heutzutage ist. Wer heute „beim Italiener“ zu Abend isst, Freunde „beim Griechen“ oder „beim Spanier“ trifft, besucht vermutlich eine Gastronomie, die ein Kind oder Enkel aus einer jener Gastarbeiterfamilien eröffnet hat. Die meisten Angehörigen der ersten Nachkriegsgeneration von Arbeitsmigranten in Deutschland hingegen kehrten im Alter wieder in ihre Heimat zurück.

Als Helmut Kohl (CDU) Kanzler war und daran zu scheitern drohte, Ende der 80er-Jahre, flohen die Menschen zu Tausenden aus der DDR nach Westdeutschland. Diese Bewegung trug maßgeblich zum Zusammenbruch der SED-Diktatur bei. Sie half später, die deutsche Einheit auf beiden Seiten der Grenze zu verankern und ein neues Deutschland zu schaffen. Im sächsischen Hoyerswerda prügelte man unterdessen – im September 1991 – Ausländer aus Vietnam oder anderen sozialistischen Staaten, die noch zur DDR-Zeit nach Ostdeutschland gekommen waren, mit rechtsradikalen Parolen aus ihren Plattenbausiedlungen heraus. In Rostock-Lichtenhagen versuchte ein Mob im August 1992, einige Hundert Ausländer in einem Heim für Asylbewerber zu verbrennen.

Die Welt steht Kopf, in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens steht sie in Flammen. Menschen fliehen, weil sie überleben, in Frieden leben, Familien gründen wollen. Wer die Kraft dieses Elends umwandelt in Zuversicht und Kreativität, gibt Menschen eine Perspektive, die ihre Heimat womöglich für lange, wenn nicht für alle Zeit verloren haben. Rund 155.000 Asylanträge wurden von Januar bis November 2014 in Deutschland gestellt, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit. Das ist mehr als in den vergangenen Jahren, und doch nur etwa ein Drittel des Jahres 1993, als allein der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien fast eine halbe Million Menschen auf der Flucht nach Deutschland trieb.

Nirgends wird man für die Nachkriegszeit einen statistischen Beweis dafür finden, dass „Überfremdung“, Massenmigration oder „Islamisierung“ dieses Land je politisch oder wirtschaftlich geschwächt hätten. Deutschland ist eine stabile und wohlhabende Mittelmacht in einer instabilen Welt. Es gebührt nicht nur dem Anstand und der politischen Raison, in dieser Lage jede nur denkbare Hilfe zu leisten. Es ist auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft, Entwurzelten neuen Grund zu bieten, persönliche Verzweiflung in gesellschaftliche Perspektive zu verwandeln. Die Flüchtlinge aus Europas Peripherie kommen sowieso. Sollen sie an den Küsten des Mittelmeers ertrinken, im Stacheldraht von Ceuta verbluten? Wäre es nicht besser, möglichst viele von ihnen würden Bürger eines Landes, Mitglieder einer Volkswirtschaft, deren Stärke auch im Wandel liegt?

Wer kommen muss, sollte kommen dürfen. Doch wer kommen kann, muss das auch wollen: eine Kultur auf der Grundlage der europäischen und der deutschen Verfassung, das Sprechen und Verstehen der deutschen Sprache, ein Leben, das auf Arbeit, Leistung und Eigenverantwortung beruht. Der Bundesstaat muss die Länder und Kommunen dabei stärken, Fremde aufzunehmen, bei Migranten die Motivation zu wecken und die Fähigkeit zu fördern, gute Europäer zu werden. Das nützt uns in Gestalt derer, die bleiben, ebenso wie bei jenen, die später wieder gehen. Die zurückkehren, um ihre verlorene Heimat wieder aufzubauen mit der Stärke und dem Wissen, das dieses Land ihnen mit auf den Weg gegebenhat.

Das wäre wohl die beste Politik, um massenhaftes Leid von Flüchtlingen und Vertrieben zu lindern, das dieser Tage viele Menschen in Deutschland ratlos macht – und manche auch aggressiv gegen Fremde und Fremdes.