Teil 10: Seng Leong Yeoh kommt aus Malaysia und hat sich in Deutschland vom Tellerwäscher zum Küchenchef hochgearbeitet. Inzwischen führt er ein Geschäft für asiatische Lebensmittel und Souvenirs – mithilfe Buddhas

Wenn er morgens in den Laden kommt und seine Tasche abgestellt hat, geht er sofort zu ihm und streichelt ihm den Bauch. Das ist das Erste, was er macht. Das ist das Wichtigste. Meistens zieht er sich noch nicht mal die Jacke aus, sondern stellt nur seine Tasche auf den Tresen. Damit er es richtig machen kann. Damit er beide Hände frei hat, um dem Buddha den Bauch zu streicheln. Weil das Glück bringen soll. Gesundheit. Geschäftserfolg. Alles, was er sich wünscht, was er braucht. Vor acht Jahren hat Seng Leong Yeoh, 57, mit diesem Ritual begonnen, als er im Dezember 2006 Das AsiaLand in Langenhorn eröffnet hat. Als er manchmal nur ein paar Kunden am Tag hatte, als das Geschäft schlecht lief. Inzwischen hat sich der Asiamarkt im Stadtteil etabliert, die Zahl der Kunden zugenommen. Inzwischen hat der Buddha vom vielen Reiben einen blanken Bauch.

Es ist kurz nach neun Uhr und Herr Yeoh hat seinen Laden gerade aufgemacht. An der Tangstedter Landstraße ist es noch ruhig und Herr Yeoh hat Zeit zum Erzählen. Von seiner Kindheit in Malaysia, von seinen Eltern, Geschwistern. Und von dem Wunsch, nach Deutschland zu gehen. In der Schule haben sie über Europa gesprochen. Über all die Dinge, die so fremd sind, dass Seng Leong Yeoh sie sich nicht vorstellen kann. Dass er sie selbst sehen will, um sie begreifen zu können. Schnee zum Beispiel. Einfachen Schnee. „Ich weiß, dass ist schwer zu verstehen“, sagt Herr Yeoh und versucht zu erklären, dass es keine rationale Entscheidung war, nach Deutschland zu gehen. Dass es keine wirtschaftlichen Gründe gab. Und auch keine politischen. Sondern nur ein Gefühl. Ein Gefühl, so stark, so unbeschreiblich, so unausweichlich, dass er sich 1977 auf die Reise macht. Alleine. Ohne seine Eltern oder Geschwister. Ohne Freunde, Vertraute. Nur mit einem Rucksack. Er packt zwei Jeans ein, ein paar T-Shirts, Unterwäsche. Und einen dicken Pullover für Deutschland. Wenn es kalt ist. Wenn er im Schnee ist. Erinnerungsstücke nimmt er nicht mit. Keine Fotos, keine Briefe. Nichts. Nur seinen Talisman. Ein kleines Stück Stoff aus seiner Kindheit, so groß wie ein Taschentuch. Es ist mit einem Buddha bedruckt.

Herr Yeoh spricht nur, wenn er etwas gefragt wird. Er macht nach jeder Antwort eine Pause, wartet ab. Alles andere wäre unhöflich oder sogar aufdringlich. Trotzdem erzählt er gerne. Wenn man möchte. Erzählt von der Reise. Aus seiner Heimat, der Insel Penang, nach Südindien. Mit dem Schiff, weil er sich ein Flugticket nicht leisten kann. Weil er für die ganze Reise nur 700 malaysische Ringgit gespart hat, umgerechnet rund 170 Euro.

Es ist der Beginn einer dreimonatigen Reise. Von Neu-Delhi nach Pakistan und Afghanistan, von Kabul in den Iran und die Türkei. Von der Türkei nach Griechenland und Italien. In die Schweiz und nach Deutschland. Es ist eine Reise durch die Welt und zu sich selbst. Es ist eine Reise, bei der das Ziel der Weg ist. „Auch wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich nie in ein Flugzeug gestiegen und nach Deutschland gereist. Es kam auf den Weg an“, sagt Seng Leong Yeoh und erzählt von Zügen, die so voll waren, dass man nur auf dem Dach mitfahren konnte. Von Autos, die in einigen Gegenden so selten waren, dass man nicht trampen konnte. Und von Bussen, die so selten fuhren, dass man zu Fuß gehen musste. Immer wieder zu Fuß. Kilometerweit. Wie weit? „Unendlich weit“, sagt Herr Yeoh. So weit, dass seine Schuhe irgendwann durchgelaufen sind. Seine einzigen Schuhe. Er hat nur ein Paar mitgenommen.

Wenn man Herrn Yeoh heute in seinem Laden sieht, zwischen den akkurat eingeräumten Waren, kann man sich kaum vorstellen, dass er während der Reise in Hippie-Hotels gewohnt und mit anderen Reisenden tagelang in Cafés „rumgehangen“ hat. An einiges kann er sich nicht mehr genau erinnern, an vieles schon. Wie er nach seiner Ankunft in Hamburg jemanden aus Malaysia kennenlernt und bei ihm in einer Studenten-WG an der Schlüterstraße wohnt. Wie komisch er das deutsche Essen anfangs findet. Wie sich der erste Schnee auf der Haut angefühlt hat. Und wie er als Straßenmusiker jobbt, in der Spitalerstraße. Er spielt Gitarre, singt ein bisschen, verdient 20 bis 30 Mark am Tag. Genug fürs Leben. Für Lebensmittel. Miete in der WG muss er nicht bezahlen. Eine Krankenversicherung hat er nicht. Aber einen Traum. Er will studieren – und wird dann erst einmal Küchenhilfe. Tellerwäscher.

Vom Tellerwäscher zum Millionär. Eine Assoziation, die einem sofort durch den Kopf schießt. Die falsche Erwartungen weckt, fehlleitet. Denn Herr Yeoh ist kein Millionär, sein Laden keine Goldgrube. Egal, wie oft er den Bauch des Buddhas reibt. Aber er hat es geschafft, sich vom Tellerwäscher zum Koch hochzuarbeiten und schließlich sogar Küchenchef zu werden. Was nach dem Höhepunkt einer Karriere klingt, war für Seng Leong Yeoh ein Tiefpunkt. Weil er mehr, immer mehr arbeitet. Zwölf Stunden. Manchmal sogar 14. Weil er keine Zeit mehr für die Familie hat, seine Frau, seine Tochter. Bis er beschließt, sich selbstständig zu machen. Nicht mit einem Restaurant, wie man es von einem Koch erwarten könnte. Sondern mit einem Laden. Weil die Arbeitszeiten da geregelt sind. Weil da um 18 Uhr Schluss ist. Glaubt er damals. Heute weiß er es besser. Weiß, dass nach Feierabend oft Buchhaltung und Bestellungen gemacht werden müssen. Oder dass man auf Lieferanten warten muss.

Die Tangstedter Landstraße füllt sich langsam. Die erste Kundin betritt den Laden, kauft ein paar Tüten mit Instantnudeln. Eine Tüte kostet 35 Cent. Der Gewinn von Herrn Yeoh? Ein paar Cent. „Mit Lebensmitteln macht man wenig Gewinn“, sagt Herr Yeoh. Bei den Non-Food-Artikeln seien die Margen höher, sagt er und zeigt auf das traditionelle Reiskorngeschirr und das Teeservice, das Salatbesteck aus Wasserbüffelhorn, die japanischen Sushimesser, die Vasen, Räucherstäbchen, Kochbücher und die Buddha-Figuren. Davon hat er mehrere, die verkaufen sich gut. Vor allem zur Weihnachtszeit. Nur sein großer Buddha im Eingang ist nicht zu verkaufen. „Der gehört zum Laden“, sagt er und reibt ihm den Bauch. Übrigens: Man dürfe sich nicht wundern, dass die Figur verstaubt sei. Das habe einen Grund: „Man darf einen Buddha nur einmal im Jahr sauber machen, sonst bringt er kein Glück mehr“, so Herr Yeoh. Das haben ihm seine Eltern erzählt. Das glaubt er.

Der Buddha hat ihm Glück gebracht. Vielleicht keinen Wohlstand. Aber ein Geschäft, das er mag, das läuft Auch wenn es etwas besser sein könnte, wie er sagt. Aber er will nicht undankbar sein. „Ich bin zufrieden“, sagt er. Das ist seine Einstellung, seine Philosophie. Dankbar sein statt meckern. Die positiven Seiten sehen statt nur die negativen. Natürlich gebe es einige Probleme. Zum Beispiel wenn die großen Discounter ihre Asiawochen ausrufen und Preise ansetzen, die weit unter seinen liegen. „Mit den Dumpingpreisen kann ich nicht mithalten, weil ich alle Waren importiere“, sagt Herr Yeoh und deutet auf die Regale mit Sojasoßen, Pflaumenwein, Mangosaft, Gingsengtee, Nudeln aus Süßkartoffeln, Maismehl, Erdnuss-öl, Roten Linsen, geschälten Mungobohnen, Wasabi-Paste, Ingwer, Algen, Kroepoek, Sakre, Senfkörnern, Zitronengras und grünem Pfeffer. Neben der Tür, auf einer Europalette, liegen Reissäcke. 20 Kilo schwer. „Zum Glück wollen nicht alle Kunden billig, billig, billig“, sagt Herr Yeoh. Zum Glück gebe es keine Konkurrenz von anderen Asiamärkten. Sein Geschäft sei in der Umgebung einzigartig, wie er stolz sagt. Darauf hat er geachtet, als er vor acht Jahren einen geeigneten Laden gesucht hat. Der Standort – und die Größe des Geschäfts. Klein sollte es sein. Damit die laufenden Kosten gering sind. Damit die Miete gering ist. Damit die Warenmenge überschaubar ist, er alles selbst bezahlen kann. Keinen Kredit aufnehmen muss.

Deswegen hat er sich für den nur 40 Quadratmeter großen Laden in der südlichen Tangstedter Landstraße entschieden, nur wenige Meter von der U-Bahn Langenhorner Markt entfernt. Er mag die Gegend, kennt sie von seiner Arbeit als Küchenchef in einem nahe gelegenen Fitnessclub. In der Nachbarschaft gibt es einen Dönerladen, eine orientalische Bäckerei und einen türkischen Gemüsehändler. Und das Büro von Gulfam Malik, direkt gegenüber.

Gulfam Malik ist SPD-Abgeordneter in der Bezirksversammlung Hamburg-Nord. Er kauft regelmäßig bei Herrn Yeoh ein, meistens asiatische Gewürze und Kräuter, und bleibt gerne ein paar Minuten länger, um sich zu unterhalten. Um übers Geschäft zu sprechen. Denn Gulfram Malik, geboren in Pakistan und ebenfalls als junger Mann nach Hamburg gekommen, betreibt wie Herr Yeoh ein Geschäft in Langenhorn. Den Blumenladen an der U-Bahn. Daher fühlt er sich Herrn Yeoh verbunden. Weil sie beide zu kämpfen haben. Beide wissen, wie hart der Preiswettbewerb ist. „Einzelhandel hat es heutzutage schwer, da es leider keine Lobby gibt“, sagt Malik. Deshalb sei es wichtig, durch Qualität und Beratung zu überzeugen. Es klingt nach einer Phrase, einer Floskel, ist für viele Einzelhändler aber eine Überlebensstrategie. Deswegen bietet Herr Yeoh nicht nur Lebensmittel an. Sondern auch sein Wissen. Sein Wissen als Koch, als Küchenchef. Ihm geht es nicht nur um die richtigen Zutaten, sondern auch um die Zubereitung. „Wer sich dafür interessiert, bekommt gerne Tipps von mir“, sagt Herr Yeoh. Er verkauft zwar auch Kochbücher, doch seine persönlichen Rezepte gibt es gratis. Herr Yeoh ist alleine im Laden. Angestellte hat er nicht, hatte er noch nie. Wenn er Ferien macht, schließt er. Zwei Wochen im Sommer. Öfter nicht. Öfter kann er sich das nicht leisten, den Laden zu schließen. Und wenn er krank wird? „Bin ich nie!“

Die Glocke bimmelt, die nächste Kundin kommt und kauft drei Dosen mit Kokosnussmilch für 3,57 Euro. Sie ist eine Stammkundin. Eine, die geblieben ist. Andere hat Herr Yeoh verloren. „Wegen der Baustelle“, sagt er und meint: wegen der Umbaumaßnahmen in der Einkaufsstraße. Wegen der sogenannten Straßenraummöblierung. Wegen der Bänke, Bäume und Fahrradbügel, die aufgestellt wurden. Und wegen der Parkplätze, die deswegen weggefallen sind. Direkt vor seinem Geschäft zum Beispiel. Rund 20 Parkplätze sind es weniger. 20 von circa 80. „Jeder Parkplatz ist ein Kunde“, glaubt Herr Yeoh. Und noch etwas möchte er über seine Kunden sagen: dass nur die Hälfte Asiaten seien. Der Rest Deutsche. Dass immer mehr Menschen ohne Migrationshintergrund bei ihm einkaufen. Weil die asiatische Küche immer beliebter werde, immer mehr Menschen diese selbst kochen würden. Egal, woher sie kommen. Ein Einzelfall?

Nachfrage bei der Handelskammer, bei Heiner Schote, Leiter der Abteilung Handel. Er bestätigt, dass sich die Branche gewandelt hat. Dass sich die Kunden gewandelt haben. „Viele dieser Geschäfte wurden einst gegründet, um eine Marktlücke zu schließen und den Bedarf von Zuwanderern an hier nicht verfügbaren heimischen Waren zu stillen“, sagt Schote. Inzwischen hätten es viele Firmen geschafft, neben dem klassischen Klientel aus dem gleichen Heimatland auch Kunden ohne Migrationshintergrund anzusprechen. „Der Vorteil ist klar: Der Kundenkreis wird größer!“

Ausländer. Migranten. Menschen. Rund 550.000 Menschen mit Migrationshintergrund leben in Hamburg, das sind knapp 31 Prozent aller Einwohner. Circa 230.000 Menschen in der Hansestadt haben keine deutsche Staatsangehörigkeit – davon sind mehr als 40.000 Asiaten. Herr Yeoh hat seine malaysische Staatsbürgerschaft vor langer Zeit abgelegt und die deutsche angenommen. Weil er weiß, dass er niemals zurückgehen wird. Meistens fährt er noch nicht mal in den Ferien nach Hause. Weil Deutschland seine Heimat ist. Weil er nichts vermisst. Weil er angekommen ist. Wenn er mit seiner Mutter telefoniert, spricht er Hokkien mit ihr, einen in Südostasien verbreiteten Dialekt. Doch das fällt ihm immer schwerer. Seine Muttersprache wird zur Fremdsprache. Seine Vergangenheit gerät in Vergessenheit. Nur den Buddhismus bewahrt er. Behütet er. Zu Hause in seiner Wohnung in Pinneberg stehen zehn Buddhas. Im Flur und im Wohnzimmer. Aber nicht im Schlafzimmer oder im Bad. „Weil sie da nicht hingehören. Weil sie heilig sind“, sagt Herr Yeoh und lehnt es ab, dass Buddhas als Lifestyle-Accessoire gebraucht werden. Sogar auf Toiletten stehen. „Das geht gar nicht“, sagt er. „Da würde man ja auch kein Jesus-Kreuz hinhängen.“

Wenn Herr Yeoh um 18 Uhr Feierabend hat, streichelt er dem Buddha noch einmal den Bauch. Das ist das Letzte, was er abends im Geschäft macht. Das ist das Wichtigste. Dann bedankt er sich für den Tag und verabschiedet sich bis morgen. Er macht das Licht aus und schließt die Tür ab. Durch das Schaufenster sieht man den Buddha mit dem blanken Bauch.

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