Die Verstromung der Braunkohle in Deutschland nimmt zu – auch wegen der Energiewende. Ein Besuch im Kraftwerk Jänschwalde.

Jänschwalde. Das Besucherzentrum des Kraftwerks Jänschwalde bietet seit einigen Tagen eine neue Attraktion. In einem Raum am Eingangsbereich der riesigen Anlage können Mitarbeiter und Gäste die Energiewende simulieren. Eine tischförmige Schautafel zeigt das ostdeutsche Strom-Übertragungsnetz des Unternehmens 50 Hertz, das bis nach Hamburg reicht. Dargestellt sind auch die Kraftwerke von Vattenfall in Ostdeutschland und in Hamburg und die großen Verbrauchszentren in ihrem Einzugsgebiet. An einer interaktiven Fläche stellt man die typische Energienachfrage eines Tages ein und legt obendrein noch fest, ob je nach Wetterlage viel oder wenig Strom aus Wind- und Sonnenkraftwerken ins Netz eingespeist wird. Weil deren Leistung im Lauf des Tages schwankt, muss der Bedarf mit Strom aus Kohle- und Gaskraftwerken oder auch aus Wasser-Pumpspeichern ausgeglichen werden.

Kraftwerks-Sprecherin Martina Weiß war beim Aufbau der neuen Anlage dabei. Aber auch ihr gelingt es an diesem Vormittag nicht, die Tageskurve von Angebot und Nachfrage am Steuerpult in Übereinstimmung zu bringen. Wenn zu viel oder aber zu wenig Strom im Netz ist, droht der Blackout. „Da habe ich wohl zu wenig Strom in die Pumpspeicherkraftwerke abgeleitet“, sagt Weiß, nachdem das Netz wegen Überlastung kollabiert ist.

Jänschwalde bei Cottbus wird seit der deutschen Einheit stetig modernisiert

So sind sie, die Windkraft und die Fotovoltaik, diese Botschaft soll die Schautafel vermitteln: launige Grazien, zwar allseits beliebt , weil sie das Klima und die Umwelt schonen, aber in ihrer Energieausbeute noch immer schwer berechenbar und schlecht zu speichern. Die Sonne scheint nur am Tag, der Wind weht mal so, mal so, und das Wetter vor Ort – Wolken, Regen oder Nebel – beeinflusst beide gleichermaßen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts, das ist das Fernziel der ambitionierten Energiewende, soll sich Deutschland aus Wind-, Sonnen- und Wasserkraft, aus Biomasse und Erdwärme möglichst vollständig versorgen. Der weite Weg dahin aber hält manches Paradox bereit: Weil die installierte Leistung von Wind- und Sonnenkraftwerken seit Jahren steigt, weil allein gut 13 Prozent der deutschen Stromerzeugung 2013 aus diesen beiden schwankungsanfälligen Technologien stammten, braucht das System zusätzliche Stabilität. Und die lieferte in den vergangenen Jahren vor allem die Braunkohle, jener Energieträger mit dem spezifisch höchsten Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2). Aus einer Tonne Braunkohle lässt sich eine Megawattstunde Strom erzeugen, bei der Verbrennung entsteht aber auch eine Tonne Kohlendioxid. In Jänschwalde bei Cottbus, Deutschlands drittgrößtem Kraftwerk, werden täglich gut 82.000 Tonnen Braunkohle verfeuert. 22,5 Milliarden Kilowattstunden Strom, gut 3,75 Prozent des deutschen Bedarfs, erzeugte die Anlage mit ihren sechs Blöcken im vergangenen Jahr. So viel bislang wie in keinem Jahr zuvor.

Gut ein Viertel des deutschen Stroms stammt aus Braunkohlekraftwerken. Weil die Wirtschaft, aber auch der Stromexport aus Deutschland boomt, weil der Anteil des Atomstroms mit dem Atomausstieg sinkt, stieg in den vergangenen Jahren der Ausstoß an Kohlendioxid wieder an, auf 951 Millionen Tonnen im Jahr 2013. Das politische Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 auf 750 Millionen Tonnen zu senken, wird somit schwerer zu erreichen sein. Aus Sicht von Umweltaktivisten und -politikern ist die Hauptursache dafür eindeutig ausgemacht: Die Braunkohle-Branche hat in Deutschland die Buhmann-Rolle der Atomkraft übernommen, auch deshalb, weil in den heimischen Tagebauen vor allem der brandenburgischen Lausitz und in den rheinischen Revieren immer wieder weite Landstriche aufgerissen werden müssen, um an den Rohstoff heranzukommen.

Für den 23. August organisieren Greenpeace und etliche andere Gruppen in der Lausitz und in Polen eine grenzüberschreitende „Menschenkette gegen Kohle“, um gegen neue Tagebaue und gegen den Betrieb von Braunkohlekraftwerken zu demonstrieren. „Die Prognosen der Bundesregierung sind reine Makulatur“, sagt Greenpeace-Klimaexperte Karsten Smid. „Um sein Klimaziel zu erreichen, muss Deutschland schmutzige Kohlekraftwerke stilllegen.“ Vorsorglich hat Greenpeace dafür schon mal die Eckpunkte eines „Kohleausstiegsgesetzes“ erarbeitet.

Die Lausitzer Kraftwerker und die Bergleute in den Tagebauen aber wollen der Prügelknabe der Energiewende nicht sein. Und viele Unzulänglichkeiten des Systems spielen ihnen dabei in die Hände. „Braunkohle ist die einzige fossile Energiequelle, die Deutschland in reichem Umfang besitzt“, sagt der Ingenieur Olaf Adermann, 52, bei der Bergbau- und Kraftwerkssparte von Vattenfall Deutschland mit Sitz in Berlin zuständig für die Unternehmensentwicklung. „Braunkohlekraftwerke wie Jänschwalde sorgen dafür, dass die Übertragungsnetze stabil sind, und das zu einem sehr niedrigen Strompreis.“

Vattenfall will sich durch die energiepolitische Debatte nicht in die Ecke drängen lassen, im Gegenteil. Die mächtigen Kohlekraftwerke in der Lausitz, die Umweltschützern seit jeher als tumbe Dreckschleudern gelten, werden seit der deutschen Einheit ständig modernisiert. Wesentliche Bestandteile des Abgases wie Schwefeldioxid, Stickoxide und Feinstaub werden mittlerweile fast komplett abgefiltert – wenngleich sich das Kohlendioxid bislang nicht abfangen lässt. Vor allem aber werden die Kessel der Anlagen so nachgerüstet, dass sie sich weitaus genauer als früher auf Schwankungen des Strombedarfs hin steuern lassen. Mit der Verfeuerung sogenannter Trockenbraunkohle, die in Jänschwalde im Pilotversuch getestet wird, kann die Leistung der Kessel stärker abgesenkt werden, als es bislang möglich war. Die vorgetrocknete Braunkohle enthält viel weniger Wasser als der Rohstoff, der üblicherweise per Bahn direkt aus den Tagebauen kommt. „Damit kann ein Kessel von rund 500 Megawatt Spitzenleistung auf bis zu 90 Megawatt heruntergefahren werden. Bislang waren 180 Megawatt die Untergrenze“, sagt Adermann. An die Kurvenverläufe des täglichen Strombedarfs, die auch die Anlage im Besucherzentrum abbildet, kann Jänschwalde so wesentlich exakter als früher angepasst werden.

Der schwedische Staatskonzern Vattenfall ist Marktführer bei der Strom- und Fernwärmeversorgung in Berlin wie auch in Hamburg. Gut 47 Prozent seines Stroms erzeugte Vattenfall im zweiten Quartal 2014 in Kohle- oder Gaskraftwerken, der größte Teil von ihnen steht in Ostdeutschland. Angesichts der Querelen um die deutschen Atomkraftwerke des Konzerns während der vergangenen Jahre, Krümmel und Brunsbüttel, oder um den Verkauf des Hamburger Strom-Verteilnetzes sind die Braunkohlekraftwerke für das Unternehmen Anker der Stabilität. Für Ostdeutschland gilt das erst recht: Gut 8000 Arbeitsplätze hängen an den regionalen Kraftwerken und Tagebauen von Vattenfall, allein 1000 Menschen arbeiten in Jänschwalde.

Der Streit um den Strom aus Braunkohle ist im Kern ein Streit um das gesamte Strommarkt-System in Deutschland und in Europa. Umwelt- und Klimapolitiker hatten gehofft, dass der Handel mit Emissionsrechten in der Europäischen Union den Betrieb von Kohlekraftwerken von Jahr zu Jahr weniger attraktiv macht. Doch der Handel funktioniert nicht, weil – auch wegen der deutschen Energiewende – zu viele Zertifikate am Markt sind. So kostet der Ausstoß einer Tonne Kohlendioxid derzeit weniger als fünf Euro statt der einst erwarteten 30 Euro. Zudem ist das Stromnetz und das Versorgungssystem in Deutschland bislang noch nicht dafür ausgelegt, große Energiemengen aus Windkraftwerken oder Solaranlagen kurzfristig zu speichern und sie bei Bedarf wieder abzugeben. „Selbst große Pumpspeicherkraftwerke, wie sie Vattenfall in Deutschland betreibt, arbeiten unter den heutigen Marktbedingungen nicht wirtschaftlich“, sagt Vattenfall-Manager Adermann. „Andere Technologien, die im großen Maßstab einsetzbar wären, sind aber noch längst nicht in Sicht.“ So arbeiten Vattenfall und auch der rheinische Kohlekonzern RWE intensiv daran, Braun- und Steinkohlekraftwerke als Stabilisatoren des Systems zu etablieren und sich ihren Betrieb und ihre Bereithaltung als quasi eiserne Reserve in sogenannten „Kapazitätsmärkten“ von den Stromverbrauchern bezahlen zu lassen – der nächste große Streit bei der deutschen Energiewende ist längst im Gange.

Die Stromkonzerne wollen ihre Kohlekraftwerke langfristig absichern

Die Energieökonomin Professor Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin fordert die schrittweise Stilllegung von Kohlekraftwerken durch eine Strommarktordnung, die dem Ausbau der erneuerbaren Energien angepasst wird: „Die sogenannten Kapazitätsmärkte sollen den ohnehin stark regulierten Energiemarkt ein weiteres Mal zugunsten der fossilen Energien beeinflussen. Eine Reduzierung der Kohlekraft wäre im Rahmen der Energiewende sinnvoll und wegen der Überschüsse am Strommarkt leicht möglich.“

Dafür müsste allerdings auch die Infrastruktur in Deutschland zügig erneuert werden: um die Speicherung von Wind- und Sonnenkraft als Wärme und als Wasserstoff voranzutreiben, um den Bedarf und die Nachfrage nach Strom durch moderne Netze optimal abzustimmen, um Energie einzusparen. Geschieht das nicht, behält Vattenfall-Manager Adermann recht: „Die Braunkohle wird noch jahrzehntelang ein Teil der Stromerzeugung in Deutschland bleiben. Ohne Strom aus großen Kraftwerken wie Jänschwalde kann die Energiewende nicht gelingen.“