Onlineshopping und große Filialisten dominieren den Handel. Wie kleine Geschäfte dagegen- halten. Teil 1: Der Spielzeugladen Kinderpost in Wellingsbüttel

Die Zweifel kommen meistens am Schreibtisch. Nie, wenn sie im Laden ist. Nur, wenn sie am Computer sitzt, über den Zahlen. Wenn sie sieht, dass sie mehr als 50 Stunden pro Woche arbeitet, am Ende selbst aber weniger verdient hat als ihre Angestellten. Wenn sie errechnet, dass von 100 Euro Umsatz nur ein oder zwei übrig bleiben. Dann fängt Heike Post an zu zweifeln. Dann fragt sie sich, ob sie alles noch einmal so machen würde, wenn sie die Wahl hätte. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte. So wie die Zeiger an der Uhr mit den Tiergeräuschen, die in ihrem kleinen Laden hinter der Kasse an der Wand hängt und die sie manchmal für die Kinder im Geschäft zurückstellt. Damit sie noch einmal das Wiehern des Pferdes oder das Miauen der Katze hören können.

Zweifeln. Verzweifeln. Fragen. Hinterfragen. Ob sie noch einmal ihren sicheren Job aufgeben würde, um sich selbstständig zu machen? Ob sie noch einmal als Erzieherin im Kindergarten aufhören würde, um ihr eigenes Spielzeuggeschäft zu führen? Ob sie noch einmal die Arbeit mit den Kindern gegen Buchführung, Bestellungen und Bürokram eintauschen würde? Und ob sie noch einmal ihren Wunsch gegen die Wirklichkeit tauschen würde? Die Illusion gegen die Realität.

Manchmal, wenn Heike Post, 62, mehr Fragen als Antworten hat, steht sie auf und verlässt den Computer. Dann steigt sie die Treppe hoch, vom Keller ins Erdgeschoss, und geht in ihren Laden. Ihre Kinderpost. Wenn sie dann einem Kind bei der Auswahl zwischen zwei Flummis hilft oder eine Großmutter beim Kauf einer Puppe für das Enkelkind berät, vergisst sie die Zahlen. Die Zweifel. In diesem Moment zählt für sie nicht das Geschäft, sondern das Gefühl. Das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Damals, 1982. Als Helmuth Kohl Bundeskanzler wird und Romy Schneider stirbt. Als Nicole „Ein bisschen Frieden“ singt und „E.T.“ nach Hause telefonieren will. Heike Post ist damals Anfang 30 und arbeitet als Erzieherin. Von 6 bis 10 Uhr in einer öffentlichen Einrichtung, danach, von 10.30 bis 13 Uhr, in ihrem privaten Kindergarten. Nachmittags kümmert sie sich um ihren Sohn und fragt sich manchmal, ob das schon alles war. Ob sie ihr Leben lang nur Kinder hüten wird. Sie merkt, dass sie gerne noch mal etwas anderes machen würde. Was? Das weiß sie nicht. Es ist nur so ein Gefühl.

Die Umsätze waren so schlecht, dass Heike Post weiter in der Kita arbeitete

Wenn Heike Post heute über ihre Kinderpost spricht, fragt sie sich manchmal, wann eigentlich alles anfing. Wann sie die Idee hatte, ein Spielzeuggeschäft zu eröffnen? Als sie erfährt, dass das Schuhhaus Gundlach in Wellingsbüttel schließt? Oder erst später, als sie ihrem Onkel davon erzählt? Die Details hat Heike Post vergessen. Nicht aber dieses Gefühl. Das Gefühl, das Richtige zu tun. Es ist keine rationale Entscheidung. Sondern Intuition, Instinkt. Ihr Onkel, ein Architekt, baut den Laden um und steckt 60.000 Mark in das Geschäft. Als sie drei Monate später eröffnet, bleiben die Menschen vor dem Schaufenster stehen. So etwas haben sie noch nie gesehen. Heike Post hat keine Spielzeuge ausgestellt, sondern eine Miniaturwelt geschaffen. Mit einer Hafenanlage, Leuchtturm, Schiffen, Wasser und Sand. Einmalig. Jeden Tag stehen Kinder und Eltern vor dem Laden. Jeden Tag hört sie, wie schön ihr Geschäft sei. Doch rein kommt kaum jemand. „Die Umsätze waren so schlecht, dass ich weiter im Kindergarten arbeiten musste“, sagt Heike Post.

Von sechs bis zehn ist sie Erzieherin, danach Geschäftsfrau. Tagsüber steht sie im Laden, abends kümmert sie sich um die Buchführung und Bestellungen. Wie lange das so geht? Heike Post steckt sieben Finger hoch. Nicht sieben Monate. Sondern sieben Jahre. Sieben Jahre, in denen sie nachts zu Hause Waren sortiert und Preise auszeichnet. Sieben Jahre, in denen ihr Job als Erzieherin das Geschäft finanziert. Sieben Jahre. Wie in diesem Lied: „Über sieben Brücken musst du gehn, sieben dunkle Jahre überstehn.“

Es ist eine Doppelbelastung. Aber auch eine Entlastung. Weil Heike Post über ihren Arbeitgeber kranken- und rentenversichert ist. Sich nicht selbst darum kümmern muss, so wie später, als sie die Anstellung aufgibt, um sich voll dem Geschäft zu widmen. „Heute denke ich, ich hätte den Job als Erzieherin mal behalten sollen“, sagte Heike Post. Heute, wo sie alleine die Kosten für Kranken- und Rentenversicherung tragen muss. Heute, wo sie keinen bezahlten Urlaub mehr hat, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Heute, wo das Geschäft vom Geld bestimmt wird. Nicht vom Gefühl.

Von der Kinderpost in Wellingsbüttel bis zum Verband idee+spiel in Hildesheim, der Fördergemeinschaft selbstständiger Spielwarenfachhändler, sind es 189 Kilometer. Jochen Martens kennt die Strecke gut. Er hat früher selbst in Hamburg gelebt und fährt heute immer wieder in die Hansestadt, um die Einzelhändler des Verbandes zu besuchen und zu beraten. Jochen Martens ist bei idee+spiel Geschäftsführer für Finanzen. In seinem Büro hängt ein Kunstdruck von Picasso. Don Quichotte. Manchmal, wenn Jochen Martens das Bild sieht, denkt er, dass auch er und die Spielzeugfachgeschäfte einen Kampf gegen Windmühlen führen müssen. Weil die Bedingungen in der Branche jedes Jahr härter werden. Weil die Zielgruppe wegen des Geburtenrückgangs immer kleiner wird. Weil es einen ruinösen Preiskampf und ein irrational hohes Warenangebot gibt, jährlich rund 50.000 Neuheiten auf den deutschen Markt kommen. Und weil nur noch 32 Prozent des Jahresumsatzes in der Spielzeugbranche (2,7 Milliarden Euro) im stationären Spielwarenfachhandel umgesetzt werden.

„Die Lage ist dramatisch für den stationären Spielwarenfachhandel“, sagt Jochen Martens. Er hält nichts von Schönfärberei oder „politischer Prosa“, wie er es nennt. Er lässt sich selten zu Gefühlen hinreißen, will nüchtern über die Probleme der Branche sprechen. Probleme wie die Überproduktion zum Beispiel. Dazu komme es, weil die Spielzeughersteller und Lieferanten trotz abnehmender Geburtenraten kontinuierlich die Produktionsmenge steigerten. „Um diese Waren überhaupt absetzen zu können, werden sie vor allem online angeboten – und das zu Dumpingpreisen, die oftmals unter dem Einkaufspreis der niedergelassenen Einzelhändler liegen“, sagt Martens und rechnet ein Beispiel vor: „Eine Plastikanziehpuppe ohne Zubehör kostet in der Herstellung rund einen Dollar. Der Spielzeughersteller gibt die Puppe für vier bis fünf Euro an den Handel ab – je nach Abnahmemenge. Um die Einkaufskosten plus Mehrwertsteuer zu decken, muss der Händler im Verkauf also mindestens 5,90 Euro nehmen. Hinzu kommen Kosten für Personal, Miete, Strom, Energie, Werbung, etc. Rund 30 Prozent des Umsatzes müssen dafür einkalkuliert werden. Das heißt: Die Puppe muss für mindestens acht bis neun Euro verkauft werden, damit der Händler seine laufenden Kosten deckt. Gewinn hat der Unternehmer dann jedoch noch nicht gemacht“, so Jochen Martens. Da die gleiche Puppe im Internet aber schon für sechs bis sieben Euro auftaucht, werden die Fachhändler immer öfter als „Showrooms“ missbraucht. Das heißt: Der Kunde lässt sich im Laden beraten und die Waren zeigen, kauft dann aber online zu Dumpingpreisen. Die Folge: „Händlersterben“, sagt Martens und nennt die Zahlen hinter dem Wort: Im Jahr 2006 hatten die beiden führenden Spielwarenverbände Vedes und idee+spiel zusammen noch rund 2200 selbstständige Fachhändler – jetzt sind es zusammen keine 1500 mehr.

Rund 70.000 Euro müssen die Händler jedes Jahr in Spielzeug investieren

Heike Post kennt die Zahlen. Und sie kennt die Menschen hinter den Zahlen. Die Geschichten, die Schicksale. Zerstörte Existenzen, geplatzte Träume. Sie stand selbst schon ein paar Mal vor der Geschäftsaufgabe, konnte nur dank der finanziellen Unterstützung ihrer Familie überleben. Einen Kredit von der Bank hat sie nicht bekommen. Weil die Branche zu unsicher sei, hieß es als Begründung. Die Kapitalbindung ist groß, die Margen sind klein. 50.000 bis 70.000 Euro müssen Einzelhändler jedes Jahr mindestens in Spielzeug investieren. Selbst wenn ihre Ladenfläche minimal ist. So wie die von Heike Post.

Die Kinderpost Wellingsbüttel hat rund 90 Quadratmeter Verkaufsfläche. Damit liegt sie deutlich unter dem Durchschnittswert von rund 300 Quadratmetern, den der Verband idee+spiel für den stationären Spielzeugfachmarkt errechnet hat. Aus diesem Grund hat Heike Post vor 16 Jahren ein zweites Geschäft eröffnet, in Poppenbüttel. „Da die meisten Waren nur in größeren Verpackungseinheiten eingekauft werden können, hatte ich genug Spielzeug, um einen zweiten Laden aufzumachen“, sagt Heike Post. „Ist doch besser, als ein Lager anzumieten und die Sachen dort verstauben zu lassen.“ Rund 100 Quadratmeter Verkaufsfläche hat die Kinderpost an der Poppenbüttler Hauptstraße, nahe dem Moorhof, wo der Laden zuerst war. „Die erste Lage war gut, die Miete aber zu hoch“, sagt Heike Post. Jetzt zahle sie nur die Hälfte. „Wenn man die Einnahmen nicht steigern kann, muss man eben die Kosten senken.“

Der Laden läuft. Aber nicht so gut, wie erhofft. Heike Post spricht nicht gerne über die Zahlen. Über Umsätze und Gewinne. Einkaufspreise und Roherträge. Weil ihr Zahlen nicht liegen. Weil das ihre Schwiegertochter macht. Oder der Steuerberater. Und weil die Zahlen sie immer zweifeln lassen. Verzweifeln. „Lassen Sie sich das mal von Herrn Martens erklären“, sagt sie, wenn das Gespräch auf ihre Bilanz kommt. Jochen Martens kennt die Zahlen in der Branche wie kaum ein anderer. Er muss noch nicht einmal nachschauen, kann jede Frage sofort beantworten. Umsatz pro Quadratmeter Verkaufsfläche? 2000 bis 3000 Euro (inklusive Mehrwertsteuer). Durchschnittlicher Jahresumsatz? „Bei einem kleinen Fachgeschäft mit einer Fläche von rund 100 Quadratmetern sind das circa 300.000 Euro“, sagt Jochen Martens. „Umsatz! Nicht Gewinn“, fügt er sicherheitshalber noch hinzu. Nicht, dass es da Missverständnisse gebe!

Von 100 Euro Umsatz bleiben am Ende nur ein bis zwei Euro übrig

„Nach Abzug aller Kosten aber vor Investitionen bleibt ein Unternehmerlohn von 30.000 bis 35.000 Euro jährlich“, sagt Martens und rechnet vor, dass davon aber noch Steuern und Krankenversicherung etc. abgezogen werden müssen: rund 2000 Euro monatlich blieben bei dieser Verkaufsfläche. Anders ausgedrückt: „Wer im stationären Spielzeughandel mit einem Geschäft von 100 Quadratmetern überleben will, muss monatlich mindestens 20.000 Euro umsetzen“, so Martens. Bei einem Kassenbon von 15 Euro im Schnitt ginge das nur über eine kontinuierlich hohe Anzahl von Kunden.

Doch wie akquiriert man eine hohe Anzahl von Kunden, wenn immer mehr Menschen online einkaufen? Das fragt sich Heike Post jeden Tag. Die Preise aus dem Internet kann sie nicht unterbieten. „Ich bin am unteren Ende der Skala angekommen“, sagt sie. Von 100 Euro Umsatz bleiben am Ende nur ein bis zwei Euro. „Alles, was ich verdiene, muss ich in neue Waren investieren.“ Um den Anschluss nicht zu verlieren. Um konkurrenzfähig zu bleiben. Und um den Kunden zumindest einen Teil dessen zu bieten, was sie im Internet bekommen. Zweimal pro Woche ist sie beim Großhändler und kauft ein, mehrmals jährlich auf Messen. Weil es dort billiger ist, meistens einen Messerabatt gibt. Rund 5000 Teile hat sie in ihrem Angebot. Vom Puppenwagen bis zum Pucky-Fahrrad, vom Schleichtier bis zum Schulranzen, vom Geodreieck bis zum Glubschi. Die Auswahl der Waren ist ein Balanceakt. Unüberschaubar, unkalkulierbar. Auch nach 30 Jahren im Geschäft. Von den Glubschis beispielsweise, den Stofftieren mit den riesengroßen Augen, hatte Heike Post nur zehn Stück bestellt. An einen Erfolg glaubte sie nicht. Bis sie nach wenigen Tagen ausverkauft waren und sie nachordern musste. Andere Waren hingegen hält sie für einen Verkaufsschlager – und wird die Sachen dann kaum los.

Am besten gehen Artikel unter zehn Euro, „weil die Leute dafür nicht extra den Computer anmachen“, sagt Heike Post. Rund 50 Kunden kommen jeden Tag zu ihr in den Laden, die meisten kaufen Kleinkram. Sachen für 100 Euro verkaufe sie kaum noch. Trotzdem muss sie diese anbieten. Weil ein Spielzeugladen ohne diese Sachen tot wäre. Seelenlos. Dennoch: „Es reicht heute nicht mehr, nur Spielwaren zu verkaufen“, sagt Heike Post. Sie probiert stattdessen, mit zusätzlichen Dienstleistungen Kunden anzusprechen. Mit einem Luftballonshop, einem Reparaturdienst für kaputte Spielwaren, Geburtstagskisten und einem Verpackungsservice. Und mit Beratung. Immer wieder Beratung. Egal, ob Eltern oder Kinder zu ihr kommen. Egal, ob es um Waren im Wert von wenigen Cent – oder vielen Euro geht. Die Beratung steht bei ihr an erster Stelle. Weil das ihre Stärke ist. Weil sie sich dadurch vom Internet unterscheiden kann. Weil sie dadurch zeigen kann, dass ein Spielzeugladen mehr als ein Ausstellungsraum ist. Und weil es ihr Spaß macht. Bestätigung gibt. Weil es ihr zeigt, wie wichtig ihr Job ist. Und ihr Laden. Ihr geht es nicht nur darum, Spielzeug zu verkaufen. Sondern Kinder glücklich zu machen. Ein Gefühl – unbezahlbar!

Inzwischen ist ihre Schwiegertochter Simone ins Geschäft eingestiegen, nicht aber ihr Sohn. „Der soll lieber seinen Job behalten“, sagt sie. Sein sicheres Einkommen. Hört sich pessimistisch an. Ist es aber nicht. Denn Heike Post glaubt an den Einzelhandel. Sie sucht ein neues Geschäft. Was sie dort eröffnen will? Einen Spielzeugladen natürlich. Es ist keine rationale Entscheidung. Sondern ein Bauchgefühl – ganz ohne Zweifel.