Arbeitsagentur-Chef Frank-Jürgen Weise sagt weniger Erwerbslose voraus und fordert eine flexible Rente

Hamburg. Frank-Jürgen Weise nutzte Termine in der Hansestadt für einen einstündigen Besuch in der Abendblatt-Redaktion. Seit mehr als zehn Jahren leitet der 62-Jährige die Bundesagentur für Arbeit mit Sitz in Nürnberg. Das Abendblatt sprach mit ihm über die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, notwendige Zuwanderung, den Mindestlohn, die Rente mit 63 und Hamburg als Jobmotor für den Norden. Zudem gab Weise Ausbildungstipps für junge Schulabsolventen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Weise, derzeit gibt es in Deutschland knapp drei Millionen offiziell registrierte Arbeitslose. Wie wird sich die Zahl entwickeln?

Frank-Jürgen Weise:

Wir gehen für das laufende Jahr von durchschnittlich 2,9 Millionen Arbeitslosen aus. 2015 dürften es dann im Jahresschnitt 2,8 Millionen sein. Insgesamt blicken wir auf eine solide Wirtschaftsentwicklung. Der Export läuft gut, die Konsumausgaben sind hoch – und wir verzeichnen in Deutschland steigende Anlageinvestitionen. Dieses positive Umfeld trägt dazu bei, das die Zahl der Erwerbstätigen sich der Marke von 42 Millionen nähert. Das wäre ein Allzeithoch für Deutschland. Davon sind mehr als 29 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Auch das ist ein historisch guter Wert.

Wie sieht es bei den offenen Stellen aus?

Weise:

Die Zahl der bei uns gemeldeten offenen Stellen pendelt sich bei rund 450.000 ein.

Viele Firmen klagen darüber, dass sie keine Fachkräfte finden. Kann dieses Problem aus Ihrer Sicht durch Zuwanderung gelöst werden?

Weise:

Die gute Ausbildung der Menschen hier und gezielte Zuwanderung sind wichtige Bestandteile der Lösung. Wir brauchen Fachkräfte aus dem Ausland, wenn wir auf die demografische Entwicklung hierzulande schauen. Nach heutigem Kenntnisstand wird die Zahl der Erwerbspersonen im Jahr 2030 um fast drei Millionen niedriger sein als heute.

Wie hoch ist die Zahl der Zuwanderer?

Weise:

Im vergangenen Jahr sind rund 400.000 Menschen mehr nach Deutschland gekommen, als abgewandert sind. Das ist das, was wir aus unseren Zahlen lesen können. Eventuell waren es auch etwas mehr, denn nicht jeder Zuwanderer ist bei uns erfasst. In diesem Jahr rechnen wir mit etwa 370.000. Das Gros kommt derzeit aus Süd- und Osteuropa.

Wie qualifiziert sind die Zuwanderer?

Weise:

Es kommen immer mehr Akademiker nach Deutschland. Insgesamt ist der Anteil der hoch qualifizierten neuen Zuwanderer höher als im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Allerdings ist auch der Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung höher als der der Einheimischen.

Woran scheitert am ehesten die Integration auf dem Arbeitsmarkt?

Weise:

Das Hauptproblem ist die Sprache. Wer kein oder nur schlechtes Deutsch spricht, hat kaum Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Deshalb muss von der Politik mehr Wert darauf gelegt werden, dass Zuwanderer verpflichtend Deutsch lernen.

Reicht die Zuwanderung aus der Europäischen Union aus?

Weise:

Nein. Wir müssen über die Grenzen der Europäischen Union hinaus nach Arbeitskräften suchen.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht der Arbeitsmarkt in Hamburg entwickelt?

Weise:

Hamburg hat in den vergangenen Jahren eine sehr gute Entwicklung genommen, die Stadt ist der positive Treiber im Norden. Dagegen ist Schleswig-Holstein eher eines unserer Sorgenkinder.

Vor allem Wirtschaftsverbände kritisieren den geplanten Mindestlohn, befürchten durch ihn einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Ist diese Furcht begründet?

Weise:

Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens in Deutschland, einen Mindestlohn einzuführen – das muss man akzeptieren. Allerdings muss es für diesen Mindestlohn auch eine Mindestleistung des Beschäftigten geben. Wenn man einen Mindestlohn einführen will, dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt. Denn die Konjunktur läuft ordentlich, steigende Lohnkosten lassen sich deshalb über einen höheren Preis auf die Kunden abwälzen. Ob der geplante Mindestlohn aber zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führt, lässt sich aus unserer Sicht derzeit nicht sagen.

Wie beurteilen Sie die Rente mit 63 mit Blick auf den Arbeitsmarkt?

Weise:

Wenn man die Rente mit 63 als Einstieg in einen flexibleren Altersruhestand versteht, begrüße ich sie. Allerdings müsste man dann auch später als heute möglich in Rente gehen können. Viele Menschen wollen auch noch mit 70 Jahren arbeiten. Dagegen kann ich verstehen, dass jemand der 45 Jahre lang in der Produktion gearbeitet hat, mit 63 Jahren in den Ruhestand gehen will – und vielleicht auch aus gesundheitlichen Gründen muss.

Tun die Unternehmen genug, um ihren Beschäftigten altersgerechte Arbeitsplätze anzubieten?

Weise:

Es gibt positive Beispiele wie zum Beispiel Audi oder BMW, wo man im Produktionsprozess sehr stark auf die Bedürfnisse älterer Beschäftigter eingeht. Aber das Gros der Betriebe hat hier noch Nachholbedarf. In Deutschland liegt das durchschnittliche Rentenalter bei 62 Jahren, in Skandinavien bei immerhin 66 Jahren.

Wie entwickelt sich aus Ihrer Sicht die Jugendarbeitslosigkeit?

Weise:

In Deutschland können wir sehr zufrieden sein. Derzeit liegt die Quote der jugendlichen Arbeitslosen bei sechs Prozent. Wir geben jedes Jahr rund drei Milliarden Euro aus, um die Zahl der jungen Arbeitslosen klein zu halten. Hamburg geht hier mit der Jugendberufsagentur einen vorbildlichen Weg. Hier arbeiten Arbeitsagentur, Jobcenter, Schulbehörde und andere Institutionen perfekt zusammen, um jungen Menschen rechtzeitig eine berufliche Perspektive aufzuzeigen.

Viele Unternehmer klagen über das schlechte Bildungsniveau der Schüler in Deutschland. Was läuft schief an Deutschlands Schulen?

Weise:

Das historisch gewachsene föderale Bildungssystem ist teilweise reformbedürftig. Es erschwert nicht nur den Schulwechsel von einem in ein anderes Bundesland. Einheitliche, bundesweit festgelegte Lern- und Bildungsstandards sind zwingend notwendig, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können.

Zu welcher Lehre oder zu welchem Studium raten Sie derzeit einem jungen Menschen?

Weise:

Man sollte sich für eine Ausbildung entscheiden, die einen interessiert und Spaß bringt. Denn wenn man etwas gerne macht, dann ist man auch gut darin. Für junge Menschen, die die richtigen Voraussetzungen mitbringen, aber noch gar nicht wissen, wohin für sie die Reise gehen soll, bieten sich selbstverständlich die sogenannten MINT-Fächer an: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Dort sind die Berufsaussichten zurzeit überdurchschnittlich gut.