Komplette Verwaltungsebenen verschwinden. Energietechnik wird wichtiger Pfeiler. Auswirkungen auf Hamburg unklar

Berlin/Hamburg. Mit einem groß angelegten Konzernumbau setzt Siemens-Chef Joe Kaeser zur Aufholjagd auf die profitablere Konkurrenz an. Um die Lücke zu Rivalen wie General Electric oder ABB zu schließen, schnitzt er sich das fast 170 Jahre Unternehmen nach seinen Vorstellungen zurecht. Neun Monate nach dem Amtsantritt setzt der 56-Jährige künftig vor allem auf die Energietechnik und moderne Fabrikausstattung. Von der traditionsreichen Medizintechnik und der Schwerindustrie wendet er sich ab. In der neuen Strategie kommt das Energietechnik-Geschäft des französischen Wettbewerbers Alstom nicht vor, um das sich Siemens und GE ein Bietergefecht liefern. Kaeser machte deutlich, dass er sich hier nicht um jeden Preis auf eine Übernahme einlassen will. „Wir werden keine modernen Gladiatorenkämpfe in Paris veranstalten.“

Die 360.000 Mitarbeiter müssen sich nach zahlreichen Spar- und Sanierungsprogrammen der vergangenen Jahre erneut auf Einschnitte gefasst machen. Rund eine Milliarde Euro will der Ex-Finanzchef einsparen. Vor allem durch die Auflösung der bisherigen vier großen Konzernsektoren sollen Verwaltungsebenen gestrichen werden. Wie viele Arbeitsplätze auf der Strecke bleiben, wollte Kaeser nicht sagen. Der Niederbayer knüpfte sein Schicksal an den Erfolg des Umbaus. „Ich persönlich stehe dafür gerade, dass die nachfolgende Generation ein besseres Unternehmen weiterführen kann.“ Für eine Bewertung seines Strategieentwurfs lässt er sich indes Zeit. „Den 7.5.2014 werde ich 2020 bewerten. Bis dahin werde ich richtig hart arbeiten.“ Kaesers aktueller Vertrag läuft bis 2018.

Der Konzern soll künftig in neun Divisionen gegliedert sein, mit denen Siemens den fünf Hauptkonkurrenten auf die Pelle rücken soll. Die Energietechnik-Sparte spielt dabei eine wichtige Rolle. Sie stärkt Kaeser mit dem Kauf des Gasturbinengeschäfts des britischen Motorenbauers Rolls-Royce für fast eine Milliarde Euro. Daneben durchkämmen Fusionsspezialisten der Münchner noch vier Wochen lang die Alstom-Bücher. Dann werde sich entscheiden, ob Siemens ein eigenes Angebot vorlege, sagte Kaeser. „Wir sind ziemlich entspannt, was den Prozess angeht.“

Besonderes Augenmerk legt der Siemens-Chef neben der Energieerzeugung auf das Digitalisierungsgeschäft für die Industrie, wie etwa Fernwartungen von Anlagen über das Internet. Die neue Abteilung heißt „Digital Factory“. Sie soll bis zu 20 Prozent operative Rendite abwerfen und die bislang ertragreichste Sparte Medizintechnik noch überflügeln. In den jeweiligen Divisionen hat sich Siemens Renditeziele zwischen fünf und 20 Prozent vorgenommen, lediglich zwei erfüllen bislang die Vorgaben nicht. Ein neues Gesamtrenditeziel für den Konzern sparte sich Kaeser. Sein Vorgänger Peter Löscher war an der Ambition von zwölf Prozent gescheitert und musste gehen.

Dem hochprofitablen Medizintechnikgeschäft stellte Kaeser eine ungewisse Prognose. Die Medizin entferne sich von der traditionellen Gerätemedizin, wo Siemens mit seinen Computertomografen und ähnlichen Diagnoseapparaten stark sei, betonte Kaeser. Daher werde das Feld künftig eigenständig geführt, wenn auch vorerst nicht in eine eigene Rechtsform ausgegliedert. Eine Mehrheit wolle Siemens behalten. Die Medizintechnik bleibe Kerngeschäft. Er sei derzeit auf der Suche nach Übernahmezielen in der Chirurgieausrüstung. Experten erinnerte die Ankündigung an den Beginn der Trennung von Osram. Die einstige Leuchtmitteltochter wurde letztlich an die Siemens-Aktionäre verschenkt, da ein Verkauf der Anteilsscheine gescheitert war.

Die Hörgerätesparte soll den Weg an den Kapitalmarkt nehmen, da es in dem Geschäft kaum Synergien mit anderen Konzernbereichen gebe. Nach einem ersten Verkaufsversuch vor rund fünf Jahren sei die Sparte gut saniert worden und setze nun mit 4000 Mitarbeitern eine halbe Milliarde Euro um und verdiene Geld. Die Stahlwerkausrüstungstechnik gibt Kaeser mehrheitlich an den japanischen Mitsubishi-Konzern ab.

Die jüngsten Quartalszahlen illustrieren die Probleme des Konzerns. Teure Fehler in der Energietechnik belasteten einmal mehr das Ergebnis. Der operative Gewinn kletterte zwar im abgelaufenen Quartal um ein Sechstel auf 1,57 Milliarden Euro, blieb aber hinter den Erwartungen der Analysten zurück. Siemens musste wegen Verzögerungen beim Bau einer Starkstromleitung in Kanada 310 Millionen Euro an Sonderlasten verbuchen. „Das zweite Quartal hat gezeigt, dass wir in der Verbesserung der operativen Performance noch viel zu tun haben“, sagte Kaeser.

Auch bei der Konstruktion von Windrädern kämpft Siemens weiter mit technischen Problemen. Bei Turbinen für den Einsatz an Land musste der Konzern defekte Rotorlager austauschen, was mit 48 Millionen Euro zu Buche schlug. Energietechnikvorstand Michael Süß muss trotz des laufenden Übernahmepokers um Alstom seinen Posten räumen. Ihn ersetzt die Shell-Managerin Lisa Davis, die den boomenden US-Energiemarkt aufrollen soll. Der Hauptsitz der Sparte werde dafür nach Orlando (Florida) verlegt.

Welche Auswirkungen sich daraus für das operative Geschäft in Hamburg ergeben, ist noch ungewiss. In der Hansestadt beschäftigt Siemens mehr als 2000 Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon in der Sparte Windenergie. Die Stellenausschreibungen seien nicht gestrichen, und es werde derzeit weiter Personal aufgebaut, sagte der Betriebsratsvorsitzende in Hamburg, Claus Timmann. Dennoch gebe es Beratungsbedarf: „Wir fordern von der Unternehmensspitze ein klares Personalkonzept, das den Standort Deutschland und damit auch die Niederlassungen wie Hamburg stärkt.“ Dazu habe er noch nichts gehört, so Timmann. „Für uns ist klar: Die Neuorganisation darf nicht zum Stellenabbau missbraucht werden“, sagte der Bezirksleiter der IG Metall Küste, Meinhard Geiken. „Der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen darf nicht infrage gestellt werden.“