Der Wilhelmsburger Energiebunker versorgt ein ganzes Wohnquartier mit Wärme aus erneuerbaren Quellen

Die Menschen, die einst auf dem mächtigen Turm standen, suchten am Himmel nach Tragflächen, Rümpfen und Kondensstreifen von Flugzeugen, nach den Silhouetten britischer und amerikanischer Bomber – um sie mit ihren Flakgeschützen abzuschießen. Schaut man heutzutage von der Oberseite des Gebäudes aus nach oben, fällt der Blick wenige Meter entfernt auf eine der größten Solardachanlagen in Deutschland. Das Café Vju auf der Nordwestseite des Bunkers bietet Gästen zudem eine eindrucksvolle Sicht auf die Hamburger Innenstadt.

Ein gruseliges Monument des Krieges mussten Tausende Zwangsarbeiter im Jahr 1943 in Wilhelmsburg innerhalb weniger Monate aus dem Boden stampfen, einen Stahlbetonkubus, je 57 Meter lang und breit, 41,6 Meter hoch. Neben dem Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld zählt die Anlage zu den größten dieser Art, die je gebaut wurden. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs war der Wilhelmsburger Bunker gleichermaßen Schutzraum für Zehntausende Anwohner auf der Elbinsel wie auch Abwehrstand gegen die massiven Luftangriffe auf die Hansestadt. Heutzutage versorgt das riesige, zementgraue Gebäude, das nun Energiebunker genannt wird, ein ganzes Wohnquartier mit Nahwärme, überwiegend aus erneuerbaren Energien. Obendrein wird auf und in der Anlage Strom zur Einspeisung in das öffentliche Netz erzeugt. Das alte Ideal der Friedensbewegung, „Schwerter zu Pflugscharen“ zu machen, Kriegsgüter in eine friedliche Nutzung zu überführen, wurde wohl an keinem anderen Ort in Deutschland bislang je so konsequent umgesetzt.

Joel Schrage, 35, führt die Besucher entlang der vier ehemaligen Gefechtstürme zum Fahrstuhl, hinunter zum Haupteingang, vorbei an schweren Türen, durch weit verzweigte Gänge in das Innere des Bunkers hinein. Drinnen ist es deutlich wärmer als draußen zu Beginn des Frühlings. Die Abbruchkanten der Mauern vermitteln einen Eindruck von den Wandstärken, die zwischen 1,80 und 2,50 Meter betragen. „Das Innere des Gebäudes lag jahrzehntelang voller Bauschutt, der vor allem von fehlgeschlagenen Sprengversuchen der Briten stammte. Gut 20.000 Tonnen mussten während der Sanierung des Bunkers herausgebracht werden“, sagt Schrage, Diplom-Wirtschaftsingenieur beim städtischen Unternehmen Hamburg Energie, der das Projekt des Energiebunkers seit drei Jahren leitet.

Die Beständigkeit des Stahlbetonbaus erweist sich für die heutige Nutzung als großer Vorteil. An mehreren Orten in Hamburg wurden in den vergangenen Jahren in mühsamer Arbeit mit hydraulischen Meißeln und Mikrosprengungen kleinere Bunker abgerissen, um Platz für Wohnraum zu gewinnen. Bei den Flakbunkern aber wäre das ein fast aussichtsloses Unterfangen gewesen. Schon die Briten ließen kurz nach dem Krieg von dem Vorhaben ab, die einstigen Luftabwehrfestungen mit Sprengungen von innen zu zerlegen. Die dafür nötige Explosionskraft hätte die umliegenden Stadtteile erzittern lassen und ihre Infrastruktur nachhaltig beschädigt. So fand der verwitterte Wilhelmsburger Bunker 65 Jahre nach Kriegsende zu seiner neuen Bestimmung. Hamburg Energie verputzte die Fassade, entkernte das Gebäude und machte aus dem Denkmal im Inneren seit 2010 eine Art riesigen Heizkeller, ein sogenanntes Kombikraftwerk, in dem verschiedene Technologien zusammenwirken, um Wärme und Strom zu erzeugen. „Wir haben die Not zur Tugend gemacht und die Stärken des Bunkers genutzt: seine optimale Wärmeisolierung und das enorme Raum- und Flächenangebot mitten in einem dicht bewohnten Stadtquartier“, sagt Schrage.

Im Zentrum des Bunkers ragt ein Wärmespeicher 20 Meter empor. Der mit Dämmmaterial ummantelte Behälter aus Edelstahl mit seinen 11,50 Metern Durchmesser wurde innerhalb des Gebäudes Ring für Ring aufgeschweißt, anders hätte man den riesigen Zylinder nicht dort hineinbringen können. Der Tank enthält 2000 Kubikmeter warmes Wasser, den Inhalt von umgerechnet gut 13.000 Badewannen, der hier mit 70 bis 90 Grad aber deutlich heißer ist. Die Wärme stammt vom solarthermischen Kraftwerk an der Südfassade, von einem Blockheizkraftwerk, das mit Erdgas betrieben wird, und aus der Abwärme der Nordischen Ölwerke in Wilhelmsburg. Das Blockheizkraftwerk basiert auf einem Zwölfzylinderturbomotor von MAN. Es erzeugt Wärme und Strom zugleich und nutzt dabei gut 90 Prozent der eingesetzten Energie – gut doppelt so viel wie ein Kohlekraftwerk, das nur Strom erzeugt. „Diese Anlage hier verbrennt Erdgas. Hamburg Energie speist aber an anderer Stelle zum bilanziellen Ausgleich eine entsprechende Menge an Biogas in das Gasnetz ein“, sagt Inge Maltz-Dethlefs vom Unternehmen Sokratherm, dem Hersteller des Blockheizkraftwerkes, die an diesem Tag zur Abnahme der neuen Anlage in den Energiebunker gekommen ist. „Abgesehen davon, könnte hier auch direkt Biogas verbrannt werden.“

Der Energiebunker soll nachweisen, dass ein Kombikraftwerk auf der Basis erneuerbarer Energien für eine große Anzahl von Gebäuden schon heute funktioniert. 2,5 Megawatt thermische Leistung sind bislang installiert, das ist etwa ein Fünftel der gesamten Kapazität, die der Bunker im Endausbau bei der Wärmeerzeugung enthalten soll. Rund ein Fünftel der aktuellen Wärmeleistung wiederum steuern die Nordischen Ölwerke bei, der Rest wird weit überwiegend regenerativ erzeugt. Im kommenden Jahr will Hamburg Energie zusätzlich zu dem Blockheizkraftwerk und der Solaranlage einen Kessel installieren, der mit Holzhackschnitzeln befeuert wird. Obendrein ist geplant, im Wasserspeicher mit einer sogenannten Heizkassette auch Wärme mit Strom aus Windkraftwerken zu erzeugen, quasi mit einem überdimensionalen Tauchsieder. Dafür müsste eine Starkstromleitung in Wilhelmsburg bis hin zum Bunker verlängert werden. Stellt sich das als zu teuer heraus, soll die Heizkassette Wärme von einem externen Wasserspeicher in der Nähe des Bunkers zuliefern. Zur Absicherung von Spitzenlasten stehen in der haushohen Halle des Bunkers auch zwei konventionelle Gasthermen, die bei Bedarf zugeschaltet werden können.

Der Bunker war eines der wichtigsten Projekte der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2013 in Wilhelmsburg. Ohne öffentliche Förderung, ohne Subventionen durch die Stadt und die Europäische Union wäre die 23 Millionen Euro teure Sanierung des Kolosses nicht möglich gewesen. Im operativen Geschäft aber will sich Hamburg Energie so nah wie möglich am Wettbewerb bewegen. „Wir liegen mit den Wärmekosten absolut auf dem Marktniveau hier in Wilhelmsburg“, sagt Schrage. „Das müssen wir auch, denn wir konkurrieren mit den Kosten von gut entwickelten Gasbrennwertkesseln.“ 75 bis 85 Euro je Megawattstunde kostet die Nahwärme aus dem Energiebunker, das ist die gängige Größenordnung für diese Art von Wärmeversorgung in Hamburg.

Während Deutschland über steigende Stromrechnungen debattiert, über wachsende Belastungen von Industrie und privaten Haushalten aus der Förderung von Ökostrom, läuft die Energiewende am Wärmemarkt weitgehend geräuschlos – weil sie nur in relativ geringem Umfang durch Subventionen gestützt wird, etwa durch Einmalprämien bei der Installation von Solarkollektoren auf Altbauten. Für Warmwasser aus solarthermischen Dachanlagen oder aus Kesseln, die mit Biomasse befeuert werden, bekommen Unternehmen den marktüblichen Preis, sonst nichts. Wärme für Gebäude wird, anders als Strom, seit jeher lokal und dezentral erzeugt, wenn nicht in jeder einzelnen Wohnung oder in einem Häuserblock, dann in Nah- oder Fernwärmesystemen innerhalb derselben Stadt.

Mit Sonnenwärme und Biogas, mit Windkraft und mit modernen Holzbrennkesseln steigern Hausbesitzer, Wohnungsgenossenschaften oder die Betreiber öffentlicher Gebäude Schritt für Schritt den Anteil der erneuerbaren Energien bei der Erzeugung von Wärme. Das geschieht wesentlich unauffälliger als am Strommarkt, aber der Effekt ist erheblich. Rund 35 Prozent der Energiekosten in einem durchschnittlichen deutschen Dreipersonenhaushalt entfallen auf die Erzeugung von Heizwärme und Warmwasser. Die Kosten dafür sind in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als die für Strom, weil Erdgas und Heizöl deutlich teurer wurden. Wärme aus erneuerbaren Energien hingegen bleibt, wenn die Systeme erst etabliert sind, im Preis weitgehend stabil, weil Rohstoffe wie Sonnenwärme und Windenergie nichts kosten.

Die Gebäudewirtschaft nutzt die erneuerbaren Energien zur Wärmeerzeugung in wachsendem Umfang. „Dezentrale Wärmeerzeugung gerade in großen Wohnanlagen wie bei Saga GWG ist ein wesentlicher Beitrag zur Energiewende in Deutschland“, sagt Lutz Basse, der Vorstandsvorsitzende des städtischen Hamburger Wohnungsunternehmens. Saga GWG, einer der größten kommunalen Anbieter von Wohnraum in Deutschland, vermietet in Hamburg rund 130.000 Wohnungen und 1400 Gewerbeimmobilien. „Im Wärmebereich ist die Energie schon heute weit besser speicherbar als bei der Stromversorgung. Wir prüfen bei neuen Nahwärmeprojekten oder bei Sanierungen immer auch den Einsatz von Biogas und Solarthermie. Das steht im Wettbewerb zum dezentralen Einsatz von Erdgas ebenso wie zur Fernwärme, der Auskopplung von Heizwärme aus größeren Kraftwerken.“

Ohne das Weltquartier der Saga GWG wäre der Energiebunker nicht komplett. In Sichtweite des Bunkers sanierte Hamburgs größter Vermieter anlässlich der IBA für 100 Millionen Euro ein ganzes Wohnviertel. Die alten Werftarbeiterhäuser dort wurden energetisch modernisiert, an der nördlichen und südlichen Seite des Viertels entstanden obendrein neue Häuser. 469 Wohnungen sehen heute aus wie neu, sie stammen aber aus den 1930er-Jahren. Die 265 neu gebauten Wohneinheiten wiederum besitzen den sogenannten Passivhausstandard für einen besonders geringen Energieverbrauch. Rund 1700 Menschen leben rund um die Weimarer Straße nun auf neuestem städtebaulichem Niveau – auch im Hinblick auf die Energieversorgung.

Philip Schneider, 50, Projektleiter Technische Gebäudeausrüstung bei Saga GWG, steht in einem der Heizkeller der sanierten Altbauhäuser. Dort ist die Nahwärmeleitung des Energiebunkers an die Hausleitungen angeschlossen. „Wir sind nicht der einzige, aber der mit Abstand größte Abnehmer des Energiebunkers“, sagt er. „Entscheidend für die Effektivität und Wirtschaftlichkeit eines Nahwärmenetzes ist die Entfernung von der zentralen Wärmeerzeugung bis zu den versorgten Gebäuden. Jeder Meter Wärmeleitung außerhalb der Gebäude verbraucht durch Wärmeverlust über das Jahr gesehen etwa so viel Wärmeenergie wie zwei Quadratmeter Wohnfläche.“

In der Umgebung des Bunkers könnten in den kommenden Jahren insgesamt bis zu 3000 Wohnungen verschiedener Gesellschaften an das Nahwärmenetz angeschlossen werden. In seiner vollen Ausbaustufe würde der Energiebunker bei der Wärme- und Stromerzeugung insgesamt 6600 Tonnen des Treibhausgases Kohlendioxid jährlich einsparen, verglichen mit konventionellen Kraftwerken, kalkuliert Hamburg Energie. Um das zu erreichen, spielt nicht nur die Erzeugung der Wärme, sondern auch die Einsparung von Energie bei den Nutzern eine entscheidende Rolle. Der durchschnittliche Bedarf für Wärmeenergie in den sanierten Wohnungen – stark abhängig auch vom speziellen Verbrauchsverhalten der Mieter – ist gegenüber dem früheren Wert auf bis zu ein Viertel gesunken, sagt Schneider. Noch deutlich weniger Energie benötigen die Wohnungen mit Passivstandard. „Wir haben das Nahwärmenetz überwiegend in den Kellern unserer Wohngebäude verlegt. Besonders bei den Bestandsgebäuden, die zu dem Zeitpunkt bewohnt waren, war das logistisch extrem anspruchsvoll“, sagt Schneider. „Aber es minimiert den Wärmeverlust im Vergleich zu einer außerhäusigen Führung der Leitungen.“

Saga GWG und Hamburg Energie haben ein Prestigeprojekt des modernen Städtebaus geschaffen, mit Blick auf die sozialen Belange der Mieter im Quartier, die aus gut 30 verschiedenen Ländern stammen, mit Blick auch auf die Außenwirkung eines zeitgemäßen, öffentlich geförderten Wohnungsbaus. Vor allem aber entstand in und um den Wilhelmsburger Energiebunker ein Meilenstein der Energiewende. „Dieses Projekt zeigt“, sagt Saga-GWG-Chef Lutz Basse, „was in einem Innenstadtquartier mit Bestandsgebäuden heutzutage schon möglich ist.“