Bezahlen ohne Scheine und Münzen. Wie weit kommt man in Hamburg im Alltag mit Plastikkarten? Ein Selbstversuch

Hamburg. Das Brötchen wird mit Kreditkarte bezahlt, der Kaffee per EC und das U-Bahn-Ticket mit dem Handy. Klingt vielleicht merkwürdig, ist es aber nicht. Denn bargeldloses Bezahlen wird in Deutschland immer beliebter – sowohl bei Kunden als auch bei Händlern. Der Hamburger Otto-Konzern hat jüngst sein eigenes Online-Bezahlsystem Yapital auf den Markt gebracht, die Edeka-Gruppe eine eigene Smartphone-App fürs Bezahlen per Handy. Damit geht es dem Portemonnaie ans Leder.

Obwohl die meisten Kunden immer noch Scheine und Münzen nutzen, holen alternative Bezahlmethoden auf. Zwischen 1991 und 2011 hat sich allein die Zahl der Bankkarten und EC-Karten mehr als verdreifacht – von 30,3 Millionen auf 98,3 Millionen. Inzwischen wird fast die Hälfte des Umsatzes im Einzelhandel mit Kartenzahlungen gemacht. So weit die Theorie und die Zahlen des Handelsverbandes Deutschland.

Doch was heißt das in der Praxis? Wie weit kommt man mit Plastik, PIN und Unterschrift wirklich? Wie lange schafft man es ohne Scheine und Münzen? Einen Tag? Eine Woche? Einen Monat – oder sogar ein komplettes Jahr, so wie ABBA-Star Björn Ulvaeus, der ganze zwölf Monate ohne Bargeld lebte. Gut, das war in Schweden, dem Land der Bargeld-Boykottierer, wo in einigen Geschäften sogar gar kein Bargeld mehr akzeptiert wird. Doch so groß können die Unterschiede doch gar nicht sein, oder? Zeit für einen Test! Den Test, wie leicht man in Hamburg mit dem Handy an das mobilTicket des HVV kommt, ob im Coffeeshop Elektronisch Cash akzeptiert wird und was die Bäckereiverkäuferin sagt, wenn man ein Brötchen für 30 Cent mit Karte bezahlen will.

Deutschland hinkt bei Kartenzahlungen zehn bis 20 Jahre hinterher

Die erste Erkenntnis kommt schneller als das Geld sonst aus dem Automaten. Die Erkenntnis, dass ein Banknotenverzicht nicht spontan funktioniert. Einfach das Portemonnaie zu Hause lassen und nur mit Kreditkarte losziehen? Klappt nicht! Zumindest nicht, wenn man wie ich mit der U-Bahn fährt, mit jedem „Hinz&Kunzt“-Verkäufer Mitleid hat, im Supermarkt einen Einkaufswagen braucht, die Babysitterin bezahlen muss oder die Kinder bei jedem Eisladen betteln. Also lieber vorher mögliche Bargeldfallen ausloten und vorzeitig aus dem Weg räumen. Einen Chip für den Einkaufswagen besorgen, Proviant für die Kinder mitnehmen und sich rechtzeitig um eine Fahrkarte für Bus und Bahn kümmern. Denn das mobilTicket gibt es nicht sofort. Dafür muss ich mich beim HVV registrieren. Und das dauert. Name und E-Mail-Adresse angeben, Kennwort eingeben und auf die Bestätigung per Mail warten. Dann die Karte auswählen, den Geltungsbereich anklicken und die Bestellung abschicken. Anschließend die persönlichen Daten eingeben, Zahlungsmittel auswählen, Kontoverbindung eintippen und das Ticket ausdrucken.

Ausdrucken? Mist! Bin falsch! Wollte doch das Handy-Ticket bestellen und keine Online-Fahrkarte zum Selbstausdrucken. Irgendwas ist schiefgelaufen. 23 Minuten und drei Anrufe beim HVV später halte ich endlich den Fahrschein in der Hand, für den ich sonst am Automaten wenige Sekunden benötige. Bargeld habe ich nicht gebraucht, dafür eine Internetverbindung, einen Drucker und sehr starke Nerven. Wenn Zeit sprichwörtlich Geld ist, bin ich jetzt pleite. Das Online-Ticket ist zwar drei Prozent günstiger, überzeugt von dem ersten Bargeldentzug bin ich trotzdem noch nicht. Der HVV und viele Kunden schon. Im Dezember 2013 wurden mehr als 110.000 Fahrkarten per HVV-App und mehr als 30.000 Online-Fahrkarten verkauft. Damit haben die elektronischen Vertriebswege derzeit einen Anteil von etwa vier Prozent am Gesamtumsatz – Tendenz steigend.

Nächste Station beim Bargeld-Boykott ist der Bäcker. Komme mir ziemlich blöd vor, ein Brötchen mit EC-Karte bezahlen zu wollen – und werde auch so angeguckt. Klar! Wer will schon Centbeträge mit Plastik begleichen? Niemand! Diese Erfahrung hat man zumindest beim Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks gemacht, für dessen Mitglieder Kartenzahlungen quasi keine Bedeutung haben. „Dafür ist der durchschnittliche Kundenbon zu gering“, sagt Verbandssprecher und Hauptgeschäftsführer Amin Werner. Dabei wäre seiner Meinung nach das bargeldlose Bezahlen aus unternehmerischer Sicht sogar praktischer und sicherer: Weil dann das zeitaufwendige Sortieren der Münzen und Scheine entfällt, keine Gebühren für die Abgabe der sogenannten Geldbomben gezahlt werden müssten und das Bargeld weder veruntreut noch gestohlen werden könnte. Hört sich zwar praktisch an, ist aber nicht die Praxis. Wer auf Scheine und Münzen verzichten will, muss auch auf Brötchen verzichten. Zumindest auf die vom Bäcker.

„Deutschland hinkt bei Kartenzahlungen der Entwicklung zehn bis 20 Jahre hinterher – zum Beispiel Ländern wie den USA oder Skandinavien, wo kaum noch bar bezahlt wird“, sagt Wolfgang Linnekogel, Geschäftsführer des Einzelhandelsverbandes Hamburg. Der Grund? Nachfrage bei der Deutschen Kreditwirtschaft (DK), dem Zusammenschluss der Bankenverbände in Deutschland: „Ausschlaggebend ist sicher die unterschiedliche Mentalität. Während die Schweden sehr technikaffin sind, lieben die Deutschen ihr Bargeld und die Kontrolle, die sie beim Barzahlen über ihre Finanzen haben“, sagt Sprecher Steffen Steudel. Eine ganz andere Meinung vertritt hingegeben Kai Falk, Geschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), der die Gebühren als Hauptgrund sieht. Er kennt die Fakten wie kaum ein anderer. Fakten wie diese: Für das Elektronische Lastschriftverfahren gibt es keine Systemkosten. Bei der Zahlung mit EC-Karte und PIN fallen Entgelte in Höhe von 0,08 Euro pro Umsatz an (bis 25,56 Euro Umsatz). Über dieser Summe 0,2 oder 0,3 Prozent des Umsatzes. Der Einzelhandel zahlt jährlich über 500 Millionen Euro an Gebühren für Kartengeschäfte. Über 80 Prozent davon entfallen auf die Internetbankenentgelte. Die Höhe der Gebühren ist bislang nicht verhandelbar. Bislang werden nur etwa fünf Prozent des Umsatzes im Einzelhandel über Kreditkarten abgewickelt – eine Ursache dafür sind laut Kai Falk die hohen Kosten des Systems. Gebühren von über drei Prozent des Umsatzes seien keine Seltenheit und müssten vom Handel an alle Kunden weitergegeben werden. Das Fazit von Kai Falk: „Sinkende Kartenentgelte hätten mehr Akzeptanzstellen zur Folge, da mit sinkenden Gebühren die Kartenakzeptanz für viele Händler attraktiver oder überhaupt erst kalkulierbar wird. Am Ende führen sinkende Interbankenentgelte zu mehr Kartentransaktionen und könnten damit die Ausfälle auf Herausgeberseite mehr als wettmachen.“

Bis es so weit ist, muss eine Alternative her. Eine Alternative zu den Brötchen vom Bäcker. Nicht geschmacklich, aber finanziell: Baguette und Brezel aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt, der Aufbackstation im Discounter oder der Tankstelle, wo alternative Zahlungsformen wie EC, Kreditkarte oder mittels Smartphone kein Problem sind – aber unterschiedlich häufig in Anspruch genommen werden. Während bei Rewe immer noch „weit mehr als die Hälfte der Kunden“ mit Bargeld bezahlt, ist es an Tankstellen bereits umgekehrt: Hier erfolgen mehr als 60 Prozent aller Zahlvorgänge mit Plastikeinsatz. Bar bezahlt werden vor allem noch Beträge unter 20 Euro. „Kostengünstiger ist für die Tankstellen zwar nach wie vor die Bargeldzahlung. Trotzdem favorisieren viele Unternehmer insbesondere die EC-Kartenzahlung. Dadurch wird der Bargeldbestand in den Stationen reduziert und somit auch das Sicherheitsrisiko zum Beispiel durch Raubüberfälle gemindert“, sagt Sigrid Pook, Geschäftsführerin des Bundesverbands Tankstellen und Gewerbliche Autowäsche Deutschland.

Genug Experten gehört. Zeit, selbst einer zu werden und den Test fortzuführen. Das Portemonnaie ist herrlich leicht und leer, der Magen allerdings leider auch. Denn im Coffeeshop grab & go am Valentinskamp gibt es zwar mehr Kaffeevarianten als Tassen im Schrank, bezahlt werden kann aber nur auf eine einzige Art. Elektronic Cash? Nicht die Bohne! „Dafür ist die Nachfrage einfach zu gering“, sagt Inhaberin Antonella Villani. Außer einer Handvoll Touristen würde niemand mit Karte zahlen wollen. Zehn Minuten, gefühlte zwei Kilometer und ein Paar durchgelaufene Schuhe später dann die Kaffee-Oase für Bargeld-Boykottierer: Starbucks. Hier kann in jeder Filiale mit EC und Kreditkarte bezahlt werden. Egal, wie groß oder klein die Beträge sind. Praktisch! Praktischer! Plastik!

Kaum zu glauben, dass es die EC-Karte schon seit 46 Jahren gibt. Früher diente sie ausschließlich als Garantiekarte für die Einlösung eines Eurocheques, Ende der 70er-Jahre konnte man damit am Geldautomaten Bargeld ziehen und schließlich auch im Handel bezahlen – oder an einem einsamen Strandkiosk, so wie in dieser unvergessenen Visa-Werbung, in der eine badende Frau die Karte nach dem Schwimmen einfach aus dem Badeanzug zieht und damit an einer Strandhütte irgendwo im Nirgendwo eine Sonnenbrille bezahlt.

Aber zurück nach Hamburg: Der Kartenkreuzzug läuft besser als erwartet. Bin euphorisch! Bin die deutsche Variante von Björn Ulvaeus und kann ganz gut ohne Scheine und Münzen auskommen. Einen Tag? Ohne Probleme! Eine Woche? Na klar! Einen Monat? Logisch! Denke ich zumindest. Bis ich „meinen“ „Hinz&Kunzt"-Verkäufer treffe. Und jetzt? Der Kopf ist so leer wie das Portemonnaie. Husche an ihm vorbei und bin kurz davor, dass Plastikexperiment abzubrechen, als mir eine Notlösung einfällt und ich im Supermarkt ein Brötchen für ihn kaufe. Im ersten Moment scheint er verdutzt, dann freut er sich und packt es aus.

Bargeld ist mehr als ein Zahlungsmittel. Es ist etwas Emotionales

Die Erleichterung ist groß, die nächsten Herausforderungen auch! Nehme mehr Hürden als ein Leichtathlet beim Wettkampf. Die Babysitterin bekommt ein Geschenk statt Bargeld, die netten Arzthelferinnen einen Blumenstrauß anstelle eines Scheinchens für die Kaffeekasse und die Kinder Würstchen sowie Eis aus dem Supermarkt statt vom Wochenmarkt oder dem Eisladen. Werde zum Bargeldabstinenzler und sehe mich gedanklich schon in jahrelanger Schein-und-Münzen-Enthaltsamkeit leben – da laufe ich in die Falle. Oder besser gesagt: fahre hinein. Ins Alstertal Einkaufszentrum. Hier kann man zwar scheinbar alles mit Kredit- oder EC-Karte bezahlen – nur nicht die Parkgebühren. Für den Automaten ist nur Bares Wahres. Das Experiment ist zu Ende.

Was bleibt? Ein Haufen EC- sowie Kreditkartenbelege und die Erkenntnis, dass der Bargeld-Boykott hierzulande nicht dauerhaft funktioniert. Die Erkenntnis, dass der Einsatz von Plastikgeld bei großen Beträgen praktisch ist, bei kleinen Summen den Bezahlvorgang aber eher verkompliziert als vereinfacht – oder gar nicht möglich ist. Und es bleibt die Erkenntnis, dass Bargeld mehr als ein Zahlungsmittel ist. Es ist etwas Emotionales. Das Klimpern der Münzen, das Knistern der Scheine. Das Gefühl, in einer Hosentasche unverhofft einen Zehn-Euro-Schein zu finden oder auf dem Gehweg einen Cent zu entdecken. Das Gefühl, einmal richtig viel Geld in den Händen zu halten und mit den Scheinen in der Luft zu wedeln. Das Gefühl, eine Münze ins Sparschwein zu stecken oder Kindern einen Euro in die Hand zu drücken, damit sie sich etwas kaufen können. Ein Gefühl, das kein Plastik der Welt erzeugen kann. Ein Gefühl, dass unbezahlbar ist.