479 Unternehmen nutzen Chancen im Land der Fußball-WM. Exporte aus der Hansestadt haben sich vervierfacht

Hamburg. Es ist ein Investment, das aufhorchen lässt: Für 240 Millionen Euro ist ECE-Chef Alexander Otto mit seiner Familie in dieser Woche bei dem internationalen Shoppingcenter-Spezialisten Sonae Sierra eingestiegen, der vor allem in Brasilien Einkaufszentren betreibt. Otto will dort die „Chance nutzen, unsere globale Expansion einen großen Schritt voranzubringen“. Der andere Teil des Firmenimperiums setzte bereits vor zwei Jahren zum großen Sprung in dem Staat an. In Blumenau, 1850 von deutschen Auswanderern gegründet und 50 Kilometer von der Atlantikküste entfernt im Süden des Landes gelegen, baute die Otto Group mit dem Versandhändler Posthaus ein Gemeinschaftsunternehmen auf: den Online-Marktplatz posthaus.com.br. Für die Hamburger ist es der Einstieg in einen Zukunftsmarkt. „Brasilien ist für uns neben Russland der wichtigste Wachstumsmarkt“, sagt Hanjo Schneider, als Konzernvorstand Services für das Brasilien-Geschäft verantwortlich. „Die Umsätze haben sich 2013 im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt.“

Der Staat hat einen steilen Aufschwung hinter sich. Seit 2000 hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mehr als verdreifacht. Heute ist er mit einem BIP von 2,4 Billionen US-Dollar (1,76 Billionen Euro) knapp hinter Frankreich und Großbritannien die siebtgrößte Ökonomie der Welt. „Brasilien hat für ein Schwellenland ein sehr hohes Bildungsniveau, die Beschäftigen sind hoch qualifiziert, und die technische Produktion ist gut entwickelt“, fasst Michael Bräuninger, Konjunkturchef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, die Vorteile zusammen: „Es ist ein attraktiver Produktionsstandort mit hohem Wachstumspotenzial.“ Hinzu kommt: „Die Brasilianer sind sehr konsumfreudig“, sagt Jana Dotschkal, Regionalmanagerin für Brasilien beim Lateinamerikaverein. Auch bedingt durch die Hyperinflation in den 90er-Jahren werde viel auf Kredit gekauft. Dotschkal: „Ehe das Geld an Wert verliert, wird es ausgegeben.“

Es sind viele Gründe, die für ein Engagement in Brasilien sprechen. Bei der Handelskammer geben 479 Hamburger Unternehmen an, Geschäftsbeziehungen in dem Amazonasstaat zu unterhalten. 108 Firmen sind direkt vor Ort vertreten, das heißt sie haben dort Auslandsvertreter, Niederlassungen oder Produktionsstätten. „Das Interesse an dem Markteintritt ist hoch und verstärkt sich deutlich“, sagt Jan Curschmann, Brasiliens Honorarkonsul in Hamburg. Das Handelsvolumen steigt stetig. 2002 wurden Waren im Wert von 244 Millionen Euro von der Hansestadt nach Brasilien geliefert. Zehn Jahre später erreichte der Export mit 1,1 Milliarden Euro gut das Vierfache. Der Import verdoppelte sich in demselben Zeitraum von 571 Millionen Euro auf 1,2 Milliarden Euro.

Einer der Profiteure dieser Entwicklung ist Hamburg Süd. Die Reederei richtete in ihrem Gründungsjahr 1871 den ersten deutschen Liniendienst nach Brasilien (und Südamerika insgesamt) ein. Das Ladungsvolumen sei zuletzt stetig gestiegen, heißt es von dem Unternehmen aus der Altstadt. Die Importmenge habe sich in den vergangenen sechs Jahren auf 528.000 Standardcontainereinheiten (TEU) mehr als verdoppelt, das Exportvolumen stieg um sechs Prozent auf 415.000 TEU. Mehr als 20 Prozent des gesamten Containerumschlags von Hamburg Süd entfallen auf die Ostküste Südamerikas. Um das Geschäft in der Region zu stärken, wurde 1998 die brasilianische Reederei Alianca erworben. Dank ihr kann die Tochter des Oetker-Konzerns auch im Inlandsverkehr mitmischen. Von und nach Brasilien fahren heute neun Liniendienste. Die Reederei unterhält zwölf Büros in dem Land, das Hauptquartier ist in São Paulo. Mehr als 930 Mitarbeiter arbeiten vor Ort für Hamburg Süd, hinzu kommen gut 380 Seeleute.

Durch die Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Juni/Juli und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro erhofft sich das Unternehmen „positive Auswirkungen auf unser Transportvolumen“. Zum einen, weil wegen der Sportereignisse die Nachfrage nach Fernsehern steigen soll. Viele davon werden in der Amazonasstadt Manaus produziert und müssen von dort im ganzen Land verteilt werden. Das könnte den Inlandsverkehr ankurbeln. Zum anderen erhofft sich Hamburg Süd eine Zunahme beim Transport von Material, das für den Ausbau der Infrastruktur gebraucht wird.

Für rund 30 Milliarden Euro will das fünftgrößte Land der Welt die Transport- und Tourismusinfrastruktur ausbauen, die Sicherheit verbessern und Sportstätten bauen. Die sportlichen Großereignisse lohnen sich auch für deutsche Unternehmen und bringen ihnen „zahlreiche Aufträge in Milliardenhöhe“, teilte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag auf Anfrage mit. So entwarf beispielsweise ein Architektenteam von Gerkan, Marg und Partner (gmp) die Stadien in Manaus und der Hauptstadt Brasilia. Zwei Jahre später werden die weltbesten Tennisspieler und Schwimmer in Arenen nach Plänen der Othmarscher, die ein Büro mit einem Dutzend Mitarbeiter in Rio de Janeiro unterhalten, ihre olympischen Wettkämpfe bestreiten.

Am nahen, kilometerlangen Sandstrand Copacabana greifen Sonnenhungrige nach dem Willen des einzigen Hamburger DAX-Konzerns bevorzugt auf Produkte von Beiersdorf zurück. Sonnencremes, die Körperpflegeserie Body und Deos von Nivea gehören zu „den absoluten Lieblingen der Verbraucher“, sagt eine Sprecherin. Die Produkte in den blauen Verpackungen müssen natürlich die Haut pflegen, sollen aber auch einen guten Duft haben. Das Sortiment beinhaltet Gerüche wie Fenchel, Sternfrucht und Bergamotte. Die Sprecherin: „Durch das starke Wachstum der Wirtschaft und die erhöhte Kaufkraft können sich immer mehr Menschen mit mittleren und niedrigeren Einkommen ihre Wünsche in Bezug auf Haut- und Körperpflege erfüllen.“

Firmen profitieren von steigenden Löhnen und wachsender Mittelschicht

Nominal hat sich der durchschnittliche Monatslohn von 2005 bis 2012 auf 1869 brasilianische Real (573 Euro) etwa verdoppelt. Die Mittelschicht soll sich innerhalb von elf Jahren von 66 Millionen Menschen auf 118 Millionen Menschen in diesem Jahr fast verdoppeln. Beiersdorf profitierte von dieser Entwicklung, im gesamten Amerikageschäft stiegen die Erlöse binnen zehn Jahren um gut 70 Prozent. Im Jahr 2013 legten die Umsätze in Lateinamerika um 11,4 Prozent zu, „getrieben durch eine sehr gute Wachstumsrate in Brasilien“, wie es im Geschäftsbericht heißt. Zu einzelnen Ländern nennt der Konzern aus Hoheluft keine Zahlen, auch nicht was die Mitarbeiterzahl betrifft. Die eigene Tochtergesellschaft wurde vor 39 Jahren gegründet, an den Standorten São Paulo und Itatiba gibt es Produktion und Vertrieb. Die Klebstofftochter Tesa sitzt in Curitiba.

Gleich mit neun Büros ist DNVGL in Brasilien vertreten. Der Dienstleister für die maritime Wirtschaft und die Energieindustrie – bis zur Fusion mit Det Norske Veritas im vergangenen Jahr als Germanischer Lloyd bekannt – profitiert stark von der Erschließung der 2008 entdeckten umfangreichen Rohöl- und Erdgasvorkommen an der südöstlichen Atlantikküste. Generell gilt das Land als sehr rohstoffreich. In Deutschland und Hamburg werden vor allem Eisenerz nachgefragt, auch Soja, Kaffee, Flugzeuge, Kupfer und Rohöl werden stark exportiert. Brasilien plane, seine Ölproduktion in den kommenden 20 Jahren mehr als zu verdoppeln, sagt DNVGL-Manager Tomas Solli. Beispielsweise stünden derzeit in Auftragsbüchern weltweit 66 schwimmende Ölförderplattformen, 19 davon seien für brasilianische Küstengewässer bestimmt. Ein Teil der Plattformen könnte von DNVGL (als eine Art TÜV) abgenommen werden. Das Geschäft laufe sehr gut, sagt Solli, dessen Firma 1974 das erste Büro in Rio de Janeiro eröffnete. Belegschaft und Erlöse seien stetig gewachsen. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 350 Mitarbeiter in allen Bereichen, sucht qualifiziertes Personal und erwägt neue Standorte. Einer der Gründe: Neue Werften werden gebaut, die in der Folge den Bedarf an der Schiffsklassifizierung steigen lassen. Solli: „Grundsätzlich sind wir sehr positiv gestimmt für die Entwicklung des Marktes und unsere eigene Performance.“

Aus Deutschland importieren die Brasilianer vor allem Autos, Autozubehör, Chemie- und pharmazeutische Produkte sowie Maschinen. Der Gabelstaplerhersteller Jungheinrich machte vor gut zwölf Jahren den Schritt in das 200-Millionen-Einwohner-Land. In Itupeva, rund 70 Kilometer nördlich von São Paulo, gründeten die Wandsbeker eine Landesgesellschaft, die den Vertrieb organisiert und das Händlernetz betreut. Das Land sei der Schlüsselmarkt auf dem Kontinent, nennt ein Firmensprecher den wichtigsten Grund für den Markteintritt. Nach Branchenschätzung entfallen rund fünf Prozent des Gabelstaplermarktes auf Mittel- und Südamerika. Attraktive Aussichten für die Firma, die weltweit zu den drei größten Gabelstaplerbauern gehört. 113 Mitarbeiter sind derzeit in Itupeva beschäftigt – Tendenz steigend. Der Firmensprecher: „Jedes Jahr sind Mitarbeiter hinzugekommen, und wir wollen dort auch weiterhin wachsen.“ Noch ist es für den Konzern, der insgesamt 11.000 Mitarbeiter beschäftigt, eine kleine Landesgesellschaft, die aber „gute Wachstumschancen“ habe.

Der „große, sich dynamisch entwickelnde Markt“ war für die Eppendorf AG im Jahr 1998 der Grund, eine Tochtergesellschaft in São Paulo zu gründen. Rund 15 Mitarbeiter des Hummelsbüttler Medizintechnikspezialisten vertreiben heute von dort Pipetten, Zentrifugen und Verbrauchsartikel, unterstützen den Fachhandel und bieten Kundenservice an. Die Umsätze haben sich in den vergangenen Jahren „kontinuierlich positiv“ entwickelt, teilte das Unternehmen mit: „Wir werden die Organisation weiter ausbauen.“

Die Otto Group beschäftigt fast 3000 Mitarbeiter in Brasilien

Die Firmen bleiben optimistisch, obwohl sich das Wirtschaftswachstum des Landes zuletzt abkühlte. Der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses und nächstes Jahr eine Zunahme des BIP um 2,3 und 2,8 Prozent. „Mittelfristig sind für Brasilien weiterhin moderate Wachstumsraten zu erwarten“, sagt Dotschkal vom Lateinamerikaverein. Bei den Löhnen erwartet sie ein langsameres Tempo beim Wachstum, und in Dollar gerechnet könnte es sogar zu einem Rückgang der Kaufkraft kommen. Grund: Die Zentralbank betreibt eine Zinspolitik, bei der der Real deutlich an Wert zum Dollar verlieren soll. HWWI-Konjunkturchef Bräuninger warnt daher – und falls es zu weiteren Unruhen (wie 2013 beim Confederation Cup) kommen sollte – vor einer Kapitalflucht aus dem Land, weil die Investitionsbedingungen schlechter würden. Honorarkonsul Curschmann glaubt vor allem an die Chancen für die brasilianische Industrie, den Export zu steigern. Flugzeuge, Informationstechnologie und eine Ausweitung der Halbfertigprodukte böten sich an.

Die Otto Group setzt unterdessen auf Expansion. Die Hamburger sind in all ihren drei Segmenten in Brasilien tätig. Im Juli 2011 wurde die Mehrheit des Finanzdienstleisters Hoepers übernommen. Die Tochter Nextec richtet Onlineshops ein. Und der Wagniskapitalgeber e.ventures ist an mehreren Start-ups beteiligt. Insgesamt arbeiten fast 3000 Otto-Mitarbeiter in dem lateinamerikanischen Staat. Das Gemeinschaftsunternehmen Posthaus sei operativ bereits profitabel und soll weiter kräftig zulegen, sagt Konzernvorstand Schneider: „Innerhalb von fünf Jahren möchten wir beim Umsatz die Grenze von 500 Millionen Dollar überschreiten.“ Das wäre eine Verdreifachung zu 2011. Vor allem Mode, Parfüms, Haushaltsgeräte und Kosmetikartikel werden im Netz gekauft.

Einen zusätzlichen Kick könnte das Geschäft in diesem Sommer durch das Fußballturnier bekommen. Schneider: „Wenn die Stimmung im Land bei der WM gut ist, werden wir sicherlich davon profitieren.“