Friedhelm Steinberg kann sich mittelfristig deutlichen Anstieg vorstellen. Allerdings warnt er im Gespräch mit dem Abendblatt auch vor den Risiken

Hamburg. Anlässlich des Hamburger Börsentags an diesem Sonnabend sprach das Abendblatt mit Friedhelm Steinberg, dem Präsidenten der Hanseatischen Wertpapierbörse Hamburg, über die Marktentwicklung.

Hamburger Abendblatt:

Der Deutsche Aktienindex (DAX) hat seit Jahresbeginn um fast 1400 Punkte zugelegt und zuletzt zeitweise die Marke von 9000 Zählern überwunden. Hätten Sie das vor einem Jahr erwartet?

Friedhelm Steinberg:

Ich war zwar zuversichtlich für den Aktienmarkt, aber eine so gute Entwicklung hätte ich nicht für wahrscheinlich gehalten. Den meisten Anlegern ging es allerdings genauso. Die Zahl derer, die die Hausse mitgenommen haben, ist daher gering. Die Kurse wurden von wenigen Großanlegern getrieben, weitgehend von Ausländern, die auch bereits mehr als 50 Prozent der im DAX zusammengefassten Aktien halten. Die breite Anlegerschaft dagegen hält sich sehr zurück. Die Verunsicherung nach den zwei Kurseinbrüchen der Jahre 2000/2001 und 2008 sitzt bei ihnen noch tief.

Hat sich die DAX-Entwicklung also von der Realwirtschaft abgekoppelt?

Steinberg:

Das wäre mir zu hart ausgedrückt. Auch für die Unternehmensgewinne wird ja mit einem Anstieg gerechnet – und das Kurs-Gewinn-Verhältnis im DAX liegt ungefähr auf dem langfristigen Durchschnittsniveau. Aber das Risiko ist dennoch nicht klein. Denn die Staatsschuldenkrise ist ja noch nicht vorbei. Eine wesentliche Triebfeder der Kursentwicklung sind die Zentralbanken, die den Finanzmarkt äußerst großzügig mit Liquidität versorgen. Würde etwa die US-Notenbank überraschend ihre Anleihekäufe einstellen, bekäme der Markt starke Probleme.

Wie gut haben eigentlich die börsennotierten Hamburger Unternehmen abgeschnitten?

Steinberg:

Sehr erfreulich. Während der DAX seit Jahresbeginn um 18 Prozent gestiegen ist, hat der HASPAX sogar um 21 Prozent zugelegt und vor wenigen Tagen ein Allzeithoch erreicht. Maßgeblich dafür waren allerdings „Ausreißer“ wie die Aktie des Windkraftanlagenbauers Nordex, die sich im Wert seit Jahresanfang vervierfacht hat.

Einzelne Wertpapierexperten sehen den DAX sogar schon auf 20.000 Punkte klettern. Wie beurteilen Sie als Börsenpräsident solche Prognosen?

Steinberg:

Ich halte es für unseriös, wenn man solche Zahlen, an denen sich andere berauschen, einfach in den Raum wirft. Aber im Moment traue ich dem Markt schon noch einiges zu. Wenn sich die Rahmendaten nicht drastisch verschlechtern, sind 10.000 Punkte auf mittlere Sicht durchaus denkbar. Im internationalen Vergleich darf man eines nicht vergessen: Der DAX ist ein sogenannter Performanceindex, Dividenden werden also in den Wertzuwachs einberechnet. Die meisten wichtigen ausländischen Börsenbarometer berücksichtigen dagegen nur die Kursentwicklung. Misst man auf dieser Basis, ist der deutsche Aktienmarkt gar nicht so stark vorausgelaufen.

Ist es trotz des enormen Kursanstiegs für Privatanleger noch sinnvoll, jetzt Aktien zu kaufen?

Steinberg:

Wenn man einen längerfristigen Anlagehorizont hat, führt an Aktien kein Weg vorbei. Wer zum Beispiel Anfang der 1980er-Jahre eingestiegen ist, kommt heute auf eine Rendite von durchschnittlich neun Prozent pro Jahr. Es müssen ja keine Einzeltitel sein, Fonds sind für viele Privatinvestoren besser geeignet. Und wenn man sich für einen Sparplan entscheidet, kauft man zu Durchschnittskursen. Außerdem gibt es wegen des niedrigen Zinsniveaus derzeit kaum attraktive Alternativen zu den Aktien.

Welche Alternativen sehen Sie denn für Menschen, die das Risiko des Aktienmarktes scheuen?

Steinberg:

Sie haben es so schwer wie kaum je zuvor. Unternehmensanleihen solider Konzerne bringen nur Renditen von 2,0 bis 3,5 Prozent, nicht sehr viel mehr als erstklassige Staatsanleihen. Mittelstandsanleihen mit deutlich höheren Renditen sind auch mit einem höheren Risiko verbunden. Zu einer guten Mischung des Portfolios gehören auch offene Immobilienfonds. Einige von ihnen, die zeitweilig die Rücknahme von Anteilen einstellten, haben zwar das Image dieser Anlageklasse beschädigt. Aber es gibt auch gute Immobilienfonds, bei denen man mit drei bis fünf Prozent Rendite rechnen kann. Man braucht eben einen fähigen Berater, der sich auskennt.

Die EU arbeitet an einer Steuer auf Geschäfte am Finanzmarkt. Wie stehen Sie dazu?

Steinberg:

Ich bin ein Gegner dieser Steuer. Im Moment ist vorgesehen, einen Steuersatz von 0,1 Prozent zum Beispiel auf Aktientransaktionen zu erheben, aber nur 0,01 Prozent auf Geschäfte mit Derivaten, also auf Finanzwetten. Das verstehe ich nicht. Wichtig wäre, das Vertrauen in die streng überwachte Börse weiter zu stärken. Stattdessen gibt es in Brüssel eine Initiative, die weitgehend unregulierten und von Banken selbst betriebenen Handelsplattformen, die schon jetzt rund 50 Prozent des gesamten Aktienhandels ausmachen, noch auszudehnen. Auch das kann ich nicht nachvollziehen, weil es schädlich für das Vertrauen in die Kurse ist. Was wir dagegen brauchen, wäre eine starke Einschränkung des Hochfrequenzhandels. Dieser von Computerprogrammen gesteuerte Handel wird nicht abnehmen, wenn man unregulierte Handelsplattformen fördert.

Bei der Deutschen Börse in Frankfurt gibt es die Idee, den Neuen Markt, der gegen Ende des Börsenbooms im Jahr 2000 eine eher unrühmliche Rolle spielte, wiederzubeleben. Was halten Sie von diesen Plänen?

Steinberg:

Bitte keine Neuauflage des alten Neuen Marktes! Grundsätzlich finde ich aber jede Initiative gut, die mehr Auswahl und mehr Kapital an die Börsen bringt, denn das brauchen wir. Wir müssen in Deutschland noch mehr an der Aktienkultur arbeiten – bei den Anlegern wie bei den Unternehmen. Wenn man ein neues, weniger reguliertes Börsensegment einführt, muss man den Privatinvestoren aber ganz deutlich klarmachen, dass hier auch das Risiko größer ist. Und man müsste sich gut überlegen, wie man verhindern kann, dass dieses Börsensegment den gesamten deutschen Aktienmarkt herunterreißen kann, so wie es im Jahr 2000 geschehen ist.

Wie entwickeln sich die Handelsumsätze an der Börse Hamburg in diesem Jahr?

Steinberg:

Mit dem Gesamtvolumen sind wir zufrieden, es liegt ungefähr auf dem Vorjahresniveau. Den größten Teil des Umsatzes machen aber die Anleihen aus, während Aktientransaktionen, die einen höheren Ertrag bringen, einen geringeren Umfang haben als früher. Vor allem gibt es zu wenige Kauf- und Verkauforders von Privatanlegern.

Und wie sieht es im Fondshandel, einer Hamburger Spezialität, derzeit aus?

Steinberg:

Bei den offenen Investmentfonds sind wir nicht auf dem Niveau, das wir vor drei oder vier Jahren hatten. Unsere gute Marktposition haben wir aber insgesamt gehalten. Unser Zweitmarkt für geschlossene Fonds wächst weiter erheblich. Aktuell sind 5400 von ihnen, meist Immobilienfonds, bei uns gelistet, und es kommen ständig weitere hinzu. In diesem Bereich sind wir klarer Marktführer. Was uns etwas Sorgen macht, sind die Kurse. Vor allem bei den Schiffsfonds, die etwa 20 Prozent des Marktes ausmachen, sehen wir noch keine Erholung. Noch recht neu ist der Handel mit Private-Equity-Fonds.

Gibt es darüber hinaus Ideen für ganz neue Betätigungsfeder für die Börse Hamburg?

Steinberg:

Wir beraten intern über verschiedene neue Projekte. Leider kann ich noch nicht sagen, worum es dabei geht.

Heute können sich Privatanleger beim 18. Hamburger Börsentag über die Geldanlage mit Wertpapieren informieren. Welche Erwartungen haben Sie an die Veranstaltung?

Steinberg:

Ich denke, allein schon vom Zeitpunkt her ist sie hochinteressant. Der Beratungsbedarf bei Privatanlegern ist im Moment jedenfalls sehr groß. Wir erwarten rund 6000 Besucher.