Benjamin Hammer war obdachlos. Nun macht er eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Sein neues Leben ist voller Entbehrungen und Chancen

Hamburg. Wenn bei Benjamin Hammer morgens um vier Uhr der Wecker klingelt, ist er in dem Mehrfamilienhaus in Iserbrook der Erste, der aufsteht. Das Frühstück fällt meistens aus, Zeit dafür hat er nicht. Und Lebensmittel im Haus meistens auch nicht. Er duscht, packt seine Lehrbücher ein, zieht die Arbeitssachen an und fährt los. Auf die Arbeit, wie er sagt. Einmal quer durch Hamburg, mit der S-Bahn 1, der U3 und U1, und dann noch dem Bus. Eineinhalb Stunden sind es mit Bus und Bahn – oder mit dem Mountainbike, mit dem er die 22 Kilometer fährt, wenn er kein Geld für das HVV-Ticket hat. Ein Auto hat er nicht. Benjamin Hammer ist Azubi und macht eine Ausbildung als Industriemechaniker. „Das ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er. Wer Benjamin Hammer nicht kennt, könnte das für eine Phrase halten.

Wenn Benjamin Hammer nachmittags um 16 Uhr Feierabend hat, fährt er nicht zurück in seine Zweizimmerwohnung nach Iserbrook. Er fährt mit der U-Bahn bis zum Jungfernstieg, geht über die Mönckebergstraße, am Speers-ort vorbei, bis zur Altstädter Twiete. Um zu arbeiten, ein paar Stunden noch. „Hi Benjamin“, wird der 24-Jährige begrüßt, als er reinkommt und sich an den Tresen stellt. Die meisten kennen ihn, er ist schon lange hier. Hier bei Hinz &Kunzt, dem Hamburger Straßenmagazin. Hier, bei der Anlaufstelle für Wohnungslose und Obdachlose. Hier, wo Benjamin Hammer seit zwei Jahren fast täglich herkommt. Weil er selbst obdachlos war, fünf Jahre lang auf der Straße gelebt hat. Auf der Platte, wie er es nennt. „Ich sag doch: Die Ausbildung ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er noch einmal. Und man weiß jetzt, dass es keine Phrase ist.

Erst obdachlos, dann Azubi. Klingt nach einem Paradoxon. Nach einem scheinbar unauflösbaren Widerspruch, unüberbrückbaren Gegensätzen. Trotz-dem hat Benjamin Hammer es ge-schafft. Es geschafft, von der Straße zu kommen. Eine Ausbildung zu bekommen, und eine Wohnung. Bei Hinz&Kunzt ist er trotzdem noch. Weil auch ehemalige Obdachlose, die eine Wohnung gefunden haben, weiter Verkäufer bleiben dürfen.

Zwei bis drei Stunden steht er täglich auf der Mönckebergstraße und verkauft das Straßenmagazin. Manchmal auch sonntags. „Ich bin froh, dass ich diesen Job habe“, sagt er. Nicht nur, weil er damit ein bisschen Geld verdient. Sondern, weil Hinz&Kunzt ein Teil seines Lebens ist. Und weil Hinz&Kunzt ihm geholfen hat, eine Ausbildung zu bekommen. Damals vor zwei Jahren. Als Benjamin Hammer in Hamburg gestrandet war, täglich irgendwo sein Zelt aufbauen musste. Als er eine Vergangenheit hatte, aber keine Zukunft. Und als er dachte, dass Leben nur Überleben bedeutet. Bis er von Hinz&Kunzt hörte und anfing, das Magazin zu verkaufen. Und bis ihn der Sozialpädagoge dort fragte, ob er nicht Lust habe, eine Ausbildung zu machen. Bei der er alles lernt, um die Abschlussprüfung zu machen und einen festen Job zu bekommen. Eine Eintrittskarte in ein besseres, anderes Leben.

Es ist, als ob Benjamin Hammer zwei Leben hat. Ein altes und ein neues. Ein Leben als Obdachloser und eins als Azubi. Ein Leben, in dem er eines nachts vor Kälte am Boden festgefroren ist und fast gestorben wäre, wenn zwei Bahnmitarbeiter ihn nicht gefunden hätten. Und ein Leben, in dem er eine Wohnung hat, ein Zuhause – und eine Zukunft. Das Verbindungsstück dieser beiden Leben ist das Hamburger Ausbildungszentrum (HAZ) in Langenhorn, wo Benjamin Hammer vor einem Jahr die Ausbildung als Industriemechaniker begonnen hat. In dieser Gemeinschaftseinrichtung von sieben Hamburger Unternehmen werden seit 1978 junge Menschen in Metall- und Elektroberufen ausgebildet, deren Firmen selbst nicht die personellen oder technischen Voraussetzungen für die Ausbildung erfüllen können. Bis zu 800 Azubis durchlaufen hier jährlich einen Lehrgang, doch so jemanden wie Benjamin Hammer hat Gudrun Rinninsland vorher noch nicht kennengelernt. Sie ist die Geschäftsführerin des HAZ und hat schon mehrmals erlebt, dass ehemalige Obdachlose eine Ausbildung im HAZ machen wollten. Doch geschafft hat es niemand. Niemand außer Benjamin. „Es reicht nicht, von der Straße wegzukommen. Sondern auch von Drogen und Alkohol“, sagt Gudrun Rinninsland. Das packen die wenigsten.

Benjamin Hammer hat es gepackt. Er hat mit den Drogen aufgehört, mit dem Trinken. Weil er einen „Neustart“ machen will. So heißt eine Initiative des HAZ, die sozial benachteiligten Jugendlichen eine Berufsausbildung ermöglichen will. Jugendlichen, die keinen Hauptschulabschluss oder einen Migrationshintergrund haben. Die süchtig waren oder im Gefängnis saßen. Oder die von der Straße kommen. Seit der Gründung von Neustart im Jahr 1983 wurden rund 1500 sozial benachteiligte Jugendliche außerbetrieblich zu Kfz-Mechatronikern, Industrie- oder Kon-struktionsmechanikern ausgebildet.

Was für viele nach einem Almosen-Projekt für gescheiterte Existenzen klingt, ist der Versuch, dem Nach-wuchsmangel in gewerblich-technischen Berufen entgegenzuwirken. „Ausbildungsberufe im Metallbereich haben ein Image-Problem und werden oft nur als Durchgangsstation gesehen“, weiß Gudrun Rinninsland. „Um den Fachkräftebedarf decken zu können, müssen wir auch sozial benachteiligten Jugendlichen zu einer erfolgreichen Berufsausbildung verhelfen.“ Benjamin Hammer ist einer dieser Jugendlichen und doch anders. Weil er alleine ist. Auf sich gestellt. Die meisten Azubis bei Neustart wohnen bei ihren Eltern oder werden von ihnen unterstützt. Sie haben Freunde, Menschen, die sich um sie kümmern. Benjamin Hammer nicht. Er wurde von seinen Eltern rausgeworfen, als er 18 war. Kontakt zu ihnen hat er nicht mehr, auch nicht zu seinen Brüdern. „Die haben mir nur Schwierigkeiten gemacht“, sagt er und erzählt von gestohlenen Autos, Haftstrafen und Schulden.

Wenn Benjamin Hammer von seinem ersten Leben erzählt, möchte man immer wieder Stopp rufen. Weil er mehr erlebt hat, als man ertragen kann. Förderschule, Hauptschule. Dann eine Ausbildung zum Garten- und Landschaftsbauer, die er wegen einer Allergie abbrechen musste. Was dann kommt, erinnert an die Stufen einer Treppe. Nach unten. Zeitarbeit, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit. Streit mit den Eltern, Schläge, Drogen. Dann der Rauswurf, das Leben auf der Straße. Ein Schicksal, gepresst in ein paar Zeilen. Keine Worte, um das Leid auszurücken.

Doch Benjamin Hammer will kein Mitleid. Er will einfach nur erzählen. Erzählen, wie er sich hochgerappelt hat und bei Schaustellern anfing. Wie er auf Volksfesten Riesenrad und Achterbahn aufgebaut hat. Und wie ihn der Chef um das Gehalt geprellt hat und er statt Ersparnissen plötzlich Schulden hatte. Man möchte am liebsten wieder Stopp schreien und nicht noch mehr hören von einem jungen Menschen, der mit Anfang 20 schon mehr ertragen musste, als ein Mensch ertragen sollte. Doch die Geschichte von Benjamin Hammer geht weiter. Er erzählt von seiner sechsjährigen Tochter, die er jahrelang nicht gesehen hat. Er erzählt von seiner Herzerkrankung und von seiner Frau Jessica. Mit der er eigentlich nicht verheiratet war, die er aber trotzdem seine Frau nennt. Weil das Leben mit ihr schöner war. Bis sie ihn verlassen hat. Erst jetzt macht er beim Erzählen eine Pause. Weil es dazu nichts mehr zu sagen gibt.

Wer Benjamin Hammer zuhört, könnte ihn für einen alten Mann halten. So viel wie er erlebt, eingesteckt hat. Doch er ist erst 24 Jahre alt. In fünf Monaten wird er 25, dann bekommt er kein Kindergeld mehr. „Wie ich es dann schaffen soll, weiß ich nicht“, sagt er. 325 Euro Gehalt bekommt er im zweiten Lehrjahr. Das ist weniger, als bei einer betrieblichen Ausbildung, da das HAZ nicht nur die Azubis bezahlen muss, sondern auch deren Arbeitskleidung, Lehrmaterial und das Gehalt der Ausbilder sowie einer Sozialpädagogin. Rund 20.000 Euro kostet ein Azubi-Platz pro Jahr. Denn Neustart küm-mert sich nicht nur um die Ausbildung, sondern hilft bei Bewerbungen, Schulden und der Wohnungssuche. So wie bei Benjamin, der mithilfe des HAZ die Wohnung bekommen hat. „Das ist das Größte für mich“, sagt er. „Wenn mir wieder mal alles zu viel wird, fahr ich nach Hause und mach die Tür zu. Damit der ganze Scheiß draußen bleibt.“

Der ganze Scheiß. Damit meint er vor allem die Geldsorgen. Zusätzlich zu seinem Azubigehalt bekommt er Be-rufsausbildungsbeihilfe und sein Kindergeld. Auf rund 880 Euro kommt er so jeden Monat. 500 davon gehen schon für die Wohnung drauf. Hinzu kommen Kosten für Strom und Wasser, HVV-Ticket und Lebensmittel – und Schulden aus der Vergangenheit. Aus seinem alten Leben. Seinem anderen Leben.

„Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich das alles nicht schaffe“, sagt Benjamin Hammer. Doch er klingt nicht mutlos oder frustriert, sondern wütend. Weil er weiß, dass er es schaffen muss! Dass das seine einzige Chance ist. Und weil er Gudrun Rinninsland ein Versprechen gegeben hat. Sein Ehrenwort. „Und das breche ich nicht“, sagt er und versucht das Unerklärliche zu erklären. „Vielleicht hat man auf der Straße keine Ehre. Aber ein Ehrenwort.“

Zwei Jahre ist er daran noch gebun-den. Solange dauert die Ausbildung noch. Solange muss er noch büffeln und Förderunterricht in Mathe nehmen. Seine Noten in der Schule sind ausreichend, seine Bewertungen gut und seine Aussichten bestens. Denn die Chancen für Neustart-Azubis sind sehr gut, die Übernahmequote hoch. Rund 80 Prozent haben drei Monaten nach Ausbildungsende einen Job in ihrem erlernten Beruf. Daran probiert Benjamin Hammer zu denken, wenn er im Internetcafé Hausaufgaben macht, weil er keinen Computer hat. Wenn er nachts auf einer Matratze auf dem Boden schläft, weil er kein Geld für ein Lattenrost hat. Oder wenn er abends noch Hinz&Kunzt verkauft.