Die Zahl der Aufträge in Hamburg ist stark rückläufig. Elektro- und Lastenräder sollen das Geschäft beleben

Hamburg. Aufsteigen, in die Pedale treten, abbiegen, Fußgängern ausweichen, runter vom Fahrrad. Sendung abholen, Geld kassieren, rauf aufs Fahrrad, weiter. In die Pedale treten, Tempo gewinnen, die Zeit im Nacken. Spur wechseln, zwischen parkenden Autos durch, bremsen. Absteigen, rein ins Büro, Sendung abgeben, Quittung ausfüllen. Weiter, immer weiter.

Bis zu 20-mal pro Tag fährt Alex Touren wie diese. Bis zu 20-mal am Tag nimmt er per Funk einen Auftrag entgegen, schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt los. Bis zu 100 Kilometer pro Tag. Bei 30 Grad im Hochsommer und zehn Grad unter null im Winter. Bei Schnee, Regen und Hagel. Acht Stunden am Tag, fünf bis sechs Tage die Woche, bis zu 50 Wochen im Jahr. Denn Alex, 35, ist Fahrradkurier bei inline Kuriere Hamburg, seit 1999 schon. Was als Übergangsjob gedacht war, ist zum Hauptberuf geworden. Was für einige nach gescheiteter Existenz klingt, ist ein bewusst gewähltes Lebensmodell.

Denn eigentlich ist Alex Erzieher, erzählt er während einer Pause zwischen den Touren. Im Kindergarten war er aber nie. Die Strukturen seien ihm zu eingefahren gewesen, die Kollegen zu schwierig und das Gehalt zu gering. „Denn damals, Ende der 1990er-Jahre, konnte man als Kurierfahrer noch richtig Kohle verdienen“, sagt Alex. Heute sei das anders. Heute sei er froh, wenn er auf 120 bis 150 Euro netto am Tag komme. Was am Ende des Monats übrig bleibt? Nach Abzug von Steuern, Krankenkassenbeitrag, Unfallversicherung und Fixkosten? Alex zuckt die Achseln. „Genug zum Leben“, sagt er. Genug für seine Wohnung auf St. Pauli, seine siebenjährige Tochter, seine Familie. Aber nicht genug für eine private Rentenversicherung. Das heißt: „Ich bekomme später keine Rente, sondern Hartz IV“, sagt er. Einfach so. Als sei das vollkommen normal.

Für Alex ist das normal. Für viele andere Fahrradkuriere auch. Etwa 4500 bis 5000 Fahrradkuriere soll es in Deutschland geben. Die genaue Zahl ist nicht erfasst, es gibt nur Schätzungen. In einer Studie aus dem Jahr 2008 geht man von 4500 bis 5000 Fahrradkurieren aus, deren Zahl bis heute konstant sein soll. In Hamburg gehen Branchenexperten von etwa 300 Fahrradkurieren aus, die bei rund 20 Unternehmen arbeiten. Die meisten von ihnen sind selbstständig und als Subunternehmer für Kurierdienste tätig. Sie haben einen Gewerbeschein, kümmern sich selbst um Kranken- sowie Rentenversicherung und erhalten ihre Aufträge von einer oder mehreren Zentralen. Kostenlos ist das allerdings nicht. Für die Vermittlung, Organisation und Abwicklung zahlt der Fahrradkurier als Subunternehmer eine Provision an das Unternehmen. Bei der Hamburger Kurier AG beispielsweise sind das zwischen neun und 29 Prozent des Umsatzes zuzüglich einer Grundpauschale von 95 Euro monatlich. Bei den inline Kurieren Hamburg zahlen Fahrradkuriere wie Alex in den ersten drei Monaten 20 Prozent des Umsatzes – mindestens 200 Euro, maximal 410 Euro im Monat. Nach der dreimonatigen Einstiegsphase beträgt die Vermittlungsprovision dann fest 410 Euro. Hinzu kommen 550 Euro Kaution für das Funkgerät sowie 1470 Euro für ein einmaliges Darlehen und 47 Euro monatlich für die Mitgliedschaft im IKV – dem inline Kurier Verein. Denn bei Inline ist jeder Fahrer über diesen Verein quasi mit am Unternehmen beteiligt.

Das heißt: „Er hat ein Mitbestimmungsrecht am Unternehmen, ohne das volle finanzielle Risiko bei Verlusten zu tragen“, sagt Kai Wasmann vom inline Kurierdienst. Zusammen mit 90 anderen Kurierfahrern hat er das Unternehmen 1997 gegründet, weil sie alle zuvor schlechte Erfahrungen mit bestehenden Kurierzentralen gemacht hatten und ihr eigenes selbst verwaltetes Unternehmen gründen wollten. Ihr Motto: Wir kurieren Hamburg. Inzwischen hat inline 180 Fahrer, ein Drittel davon sind Biker. „Allerdings arbeiten nicht alle Kuriere jeden Tag“, sagt Wasmann. Jeder bestimme selbst, wann und wie oft er arbeite.

So die Theorie. Doch die Praxis sieht anders aus. Wer mit dem Job seinen Lebensunterhalt verdienen will, muss ordentlich in die Pedale treten. Auf die schnelle Tour Geld verdienen? Nicht als Kurier! Dafür sind die monatlichen Fixkosten zu hoch, für die jeder Fahrer aufkommen muss. Unabhängig davon, wie viel er verdient hat. Unabhängig davon, wie die Geschäfte laufen. Unabhängig davon, ob es der Branche gut oder schlecht geht.

Denn auch an den Fahrradkurieren sind die Wirtschaftskrise und die Digitalisierung nicht spurlos vorübergegangen. „Die Hoch-Zeiten sind vorbei“, sagt Horst Manner-Romberg, 56. Er ist Gründer und Chef der MRU Unternehmensberatung, die sich ausschließlich auf den Markt der Kurier-, Express-, Paket-, und Postdienste spezialisiert hat. Sein Fazit: „Früher musste jedes Foto, jeder Film, jede Grafik oder jede wichtige Unterlage per Kurier geschickt werden. Heute versenden Unternehmen ihre Dokumente, Präsentationen oder Geschäftsunterlagen immer häufiger per E-Mail oder stellen sie über Internetverbindungen zur Verfügung.“

Nach einer Studie des Bundesverbandes der Kurier-Express-Post-Dienste (BdKEP) ist die Anzahl der Kuriersendungen dramatisch eingebrochen. 1999 machte der Kurieranteil noch rund 20 Prozent des Marktes aus, 2011 waren es noch zehn Prozent. Eine Erfahrung, die man auch bei den inline Kurieren Hamburg macht. Hier werden rund 1500 Aufträge pro Tag abgewickelt, Ende des Jahres sind es bis zu 2000 – das sind zwischen 500 und 1000 weniger als früher, als jeden Tag bis zu 2500 Sendungen transportiert wurden. „Seit der Jahrtausendwende verzeichnen wir jährlich einen Rückgang von drei Prozent“, sagt auch Svend Jacobsen, 51, Vorstand der Hamburger Kurier AG. 2009 seien es sogar rund zehn Prozent gewesen. Das heißt: „Wir haben rund 40 Prozent weniger Touren als 2000.“ In konkreten Zahlen bedeutet das: Im Jahr 2004 vermittelte die Kurier AG im Durchschnitt 550 Aufträge täglich, 2012 waren es nur noch 380. Im Jahr 2004 hatte die Kurier AG 63 Fahrradkuriere, 2012 nur noch 39.

Dennoch glaubt Branchen-Experte Horst Manner-Romberg an die Zukunft der Fahrradkuriere. „Dank des Vormarsches des sogenannten E-Commerce, also des Online-Handels, brauchen wir wieder mehr lokale und regionale Beförderungsmittel. Das ist die große Chance für Fahrradkuriere.“ Neue Chancen, neue Wege.

Die Kurier AG hat auf die Veränderungen des Marktes reagiert und setzt auf Elektro-Lastenräder. Im Zuge des Pilotprojektes „Ich ersetze ein Auto“ fördert das Bundesumweltministerium deutschlandweit den Einsatz von Elektro-Lastenrädern für Kurier- und Expressdienste. Insgesamt werden deutschlandweit 40 Fahrzeuge in die tägliche Auslieferung von Kuriersendungen integriert – vier davon in Hamburg bei der Kurier AG, die vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt für das Projekt ausgewählt wurde. „Die Vorteile von E-Bikes sind groß: Die Fahrer können größere und damit lukrativere Ladungen transportieren, ohne auf die Vorteile eines Fahrrads gegenüber einem Auto in der Stadt zu verzichten: Sie kommen schneller voran als mit einem Pkw und müssen keine Zeit für Parkplatzsuche verschwenden“, so das Fazit von Svend Jacobsen. Die Kuriere sowie die Mitarbeiter in der Zentrale sind mit insgesamt 90 Prozent der Aktien an dem Unternehmen beteiligt, Svend Jacobsen selbst hält zehn Prozent. „Bei uns sind die Kuriere nicht nur Dienstleister, sondern sie haben als Aktionäre auch bei Beschlüssen ein Wörtchen mitzureden“, sagt Jacobsen. Seine Prognose: Im innerstädtischen Raum biete sich die Möglichkeit, bis zu 85 Prozent der Autokurierfahrten durch E-Bikes zu ersetzen und somit eine deutliche Emissionsreduktion zu erzielen.

Das Pilotprojekt läuft noch knapp ein Jahr, doch schon jetzt steht der Erfolg für Christoph Schweitzer, 46, fest. Er ist einer der Pilotfahrer der Kurier AG und seit fast zwölf Monaten mit dem E-Bike auf Tour. „Ich kann damit auch Autotouren annehmen, da ich mehr transportieren kann als auf einem normalen Fahrrad“, sagt er. Bis zu 100 Kilogramm oder der Größe eines Umzugskartons kann er alles mitnehmen, was gewünscht wird. Trotz der Vorteile musste sich Christoph Schweitzer erst mit seinem neuen Gefährt anfreunden. „Stellen Sie sich vor, Sie sind Pilot und fliegen Tornados – und bekommen plötzlich einen A380 vorgesetzt“, so Schweitzer, der jahrelang mit seinem Rennrad Kurierfahrten gemacht hat. Die Umgewöhnung ging jedoch schnell und der Erfolg habe ihn überzeugt. Schließlich hat er dank des E-Bikes ein Umsatzplus von rund 30 Euro täglich.

Zwischen 2800 und 3000 Euro monatlich macht Christoph Schweitzer Umsatz. Mehr, als er als freier Fotograf verdient hat. 20 Jahre lang hat er als Fotograf gearbeitet, bis die Geschäfte im Zuge der Digitalisierung immer schlechter liefen. Über seinen Assistenten ist er zu den Fahrradkurieren gekommen – und war begeistert. „Ich fand es toll, in unserer hoch technisierten Welt etwas mit meiner Muskelkraft zu bewirken“, sagt Schweitzer. Für ihn sei es eine großartige Herausforderung, sich jeden Tag dem Wetter und der körperlichen Anstrengung zu stellen. „Am Ende so eines Tages fühle ich mich gut“, sagt Schweitzer. Er will noch mehr sagen, doch dann geht das Funkgerät. Der nächste Auftrag kommt rein. Also rauf aufs Fahrrad und los. In die Pedale treten. Weiter, immer weiter.