Abendblatt-Serie: Woher kommt unser Essen? Die 24. Reise führt ins 360 Kilometer entfernte Golßen im Spreewald, wo das krumme Gemüse wächst

Golßen. Fragt man Konrad Linkenheil, wie seine Gurken ins Glas kommen, lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und holt tief Luft. »Sie ahnen ja gar nicht, was für ein kompliziertes Gemüse so eine Gurke ist«, sagte er. Linkenheil überlegt kurz und zeigt dann aus dem Fenster, wo es seit dem frühen Morgen Bindfäden auf das südliche Brandenburg regnet. „Das da ist zum Beispiel ein super Dill-Wetter“, sagt er, „aber ein mehr als bescheidenes Gurken-Wetter. Gurken brauchen Sonne, damit sie wachsen.“ Ohne Gurken kann er mit dem ganzen Dill, der sich jetzt über den Regen freut, nichts anfangen. Ohne Dill bringen ihm aber auch die Gurken nichts, wenn es wieder heiß und trocken wird. Damit, sagt Linkenheil, fange die ganze Sache aber erst an.

Konrad Linkenheil ist Westfale, und das hört man auch, obwohl er schon seit vielen Jahren hier in Golßen lebt, rund 80 Kilometer südlich von Berlin. Zusammen mit seiner Schwester gehört ihm die Spreewaldkonserve Golßen GmbH, ein mittelständischer Betrieb mit rund 170 Festangestellten einem Jahresumsatz von 102 Millionen Euro, der zu einem großen Teil aus der Produktion von Spreewälder Gurken stammt. „Gurken sind ein furchtbar arbeitsintensives Gewächs“, sagt Linkenheil. „Das können sich die meisten gar nicht vorstellen.“

Da ist zum Beispiel die Ernte, die jedes Jahr ab Mitte Juni ziemlich genau zehn Wochen dauert. Während dieser Zeit herrscht in Linkenheils Laden Hochbetrieb mit bis zu 280 zusätzlichen Saisonarbeitern. 30 verschiedene Produkte gibt es im Sortiment und 14 verschiedene Gurkengrößen, die zwischen den kleinen knackigen Cornichons und den großen saftigen „Spreewälder Jungs“ liegen.

Alle diese Gurken stammen aber trotz ihres unterschiedlichen Aussehens von ein und derselben Pflanze. Große Gurken hatten ein paar Tage länger Zeit zu wachsen als die kleinen Gurken. Wenn also Cornichons produziert werden sollen, müssen die Bauern genau die Gurken einer Pflanze pflücken, die noch klein sind. Gleichzeitig müssen andere Gurken des Strauchs groß genug werden dürfen, um die Produktion zum Beispiel der „Spreewälder Jungs“ zu bedienen. „Dazu kommt: Man muss erst unten am Gewächs Gurken ernten, damit oben neue nachwachsen.“ Es ist so kompliziert, wie es klingt. Innerhalb der Pflücksaison wird eine einzige Gurkenpflanze so bis zu 22-mal beerntet.

All das ist zu Linkenheils Glück Sache der Bauern und nicht die seine. Das Unternehmen, das die Gurken im Glas unter der Marke Spreewaldhof bundesweit verkauft, bezieht seine Rohware von fünf bis sechs Landwirten, die ihre Felder und ihren Betrieb im Wirtschaftsraum Spreewald haben. Das ist ein exakt abgegrenztes Gebiet in Südbrandenburg mit einer Anbaufläche von 600 Hektar – und hat nicht viel zu tun mit dem touristisch bekannten Spreewald mit seinen Bäumen, Seen und Flussläufen.

Was eine Spreewälder Gurke ist und was nicht, ist seit 1999 durch die EU genau definiert – und zwar durch das Siegel „geschützte geografische Angabe“. Zum einen sind damit mehrere Vorschriften verbunden, etwa dass bei der Produktion von echten Spreewälder Gurken mindestens 70 Prozent der Gurken aus dem Wirtschaftsraum Spreewald kommen und die ganze Verarbeitung hier stattfindet.

Auch bestimmte Qualitätsmerkmale sind dadurch abgedeckt, etwa dass nur frische Zwiebeln und frischer Dill verwendet werden. Zum anderen ist das Siegel auch gelebter Aufbau Ost. Durch die Ansiedelung der Gurkenbetriebe, die eben nur hier und nicht anderswo produzieren dürfen, wurden Arbeitsplätze geschaffen, wird Gewerbesteuer gezahlt, entstanden für Handwerksbetriebe neue Aufgaben. Während die Arbeitslosigkeit in Brandenburg im Juni 9,5 Prozent betrug, lag sie im Landkreis Dahme-Spreewald, zu dem auch Golßen gehört, bei nur 6,7 Prozent. Konrad Linkenheil hat das Unternehmen kurz nach der Wende übernommen. In Mönchengladbach hatte er vorher eine Fabrik für Obstkonserven, die er im Laufe der Jahre aber aufgeben musste, seit Rumänen oder Ungarn Obst viel billiger anbauen konnten als die Deutschen.

Im Spreewald hat sich seit seiner Anfangszeit viel getan – vor allem ist vieles professioneller geworden. „Als ich hier ankam, standen in der Gurkensaison jeden Tag Hunderte Trabbis Schlange. Jeder hatte zwei Sack Gurken aus dem Schrebergarten im Kofferraum. Und einen Strauß Dill“, erzählt Linkenheil. Zu DDR-Zeiten war der Gurkenanbau quasi nebenerwerbsmäßig organisiert, jeder, der etwas Platz hatte, konnte das krumme Gemüse anbauen und verkaufen.

In der größten Produktionshalle des 18 Hektar großen Betriebs riecht es zwar wenig überraschend, aber doch ziemlich intensiv nach den Gewürzgurken. „An manchen Tagen, bei 30 Grad, verlangt die Hitze in Kombination mit dem Essiggeruch den Mitarbeitern viel ab“, sagt Kathrin Seidel, Linkenheils Nichte, die sich hier seit fünf Jahren ums Marketing kümmert. Die Spreewaldkonserve Golßen GmbH ist rein familiengeführt. Seidels Bruder leitet eine zum Unternehmen gehörende Fabrik für Obstkonserven in Ungarn.

Wie bei jedem Lebensmittelproduzenten tragen die Mitarbeiter in den Hallen Kittel, Hauben und Handschuhe, Hygiene ist oberstes Gebot. In Spitzenzeiten während der Saison produzieren sie fast eine Million Gurkengläser am Tag. Bevor eine Gurke ins Glas kommt, wird sie dreimal gewaschen und geduscht, damit kein Sand an ihr haften bleibt.

Die Gurken werden mit heißem Dampf konserviert und sind vier Jahre haltbar

Eine Maschine füllt die Gewürzmischung aus Zwiebeln, Dill, Pfeffer, Senfsaat und Meerrettich in Gläser, obendrauf kommen dann die Gurken. Die großen Exemplare müssen per Hand zurechtgeruckelt werden, damit der Deckel passt, nachdem das Gemüse mit einem Cocktail aus Brandweinessig, Zucker, Salz und Gewürzen übergossen wurde. Konserviert wird das fertig gepackte Glas in etwa 90 Grad heißem Dampf. Danach sind die Gurken etwa vier Jahre haltbar.

In riesigen Lagern auf gestapelten Paletten warten sie zehn Monate auf den Abverkauf. Die ganze Jahresration wird wegen der einzigen und knappen Saison nur in jenen zehn Sommerwochen produziert, die vor Kurzem begonnen hat. „Es kommt schon vor, dass die Produktion nicht bis zur nächsten Saison reicht“, sagt Seidel. Die Spreewaldgurken vom Spreewaldhof sind Marktführer in Ostdeutschland und liegen in der gesamten Bundesrepublik in den Gurken-Verkaufsrankings unter den Top drei. Neben den Gurken werden im Unternehmen außerdem püriertes Obst und anderes konserviertes Gemüse hergestellt, zum Beispiel Rotkohl. Insofern gibt es auch außerhalb der Gurkensaison genug zu tun.

Zwar ist die deutsch-deutsche Teilung schon mehr als 20 Jahre her – macht sich aber zumindest auf dem Gurkenmarkt noch bemerkbar. „Im Westen werden die Cornichons besonders gern gegessen, im Osten eher die großen Gurken“, sagt Linkenheil. Außerdem laufen die klassischen sauren Gurken, die sich von Gewürzgurken in der Herstellung deutlich unterscheiden, in den neuen Bundesländern besser. Saure Gurken sind milchsauer vergoren und schwimmen in einem naturtrüben Aufguss mit deutlich weniger Zutaten als die Gewürzgurken. Nicht jedem ist dieser Unterschied bekannt.

Ähnlich ist es mit dem wohl größten Gurkenmythos unserer Zeit. Geht es um den überbordenden Regulierungswahn der EU, wird als Beleg gern die Gurkenkrümmungsverordnung herangezogen. Damit haben heute aber weder Gewürzgurken-Hersteller zu kämpfen noch andere Gurkenzüchter oder -händler. Die schon fast legendäre Gurken-Verordnung Nummer 1677/88 wurde im Jahr 2009 abgeschafft.