Griechenland liegt am Boden. Der Kollaps droht. Nur mit Europas Solidarität und Hilfe kann das Land gerettet werden.

Es ist immer wieder dasselbe beklemmende Gefühl, wenn man auf der Straße in der Stadt an einem Obdachlosen vorübergeht. Es ist immer dieselbe Erfahrung, sie verändert die Perspektive, wenn auch manchmal nur für Sekunden. Soll man ihm oder ihr etwas geben? Wird eine Geldgabe nicht doch gleich in Alkohol versetzt und vertrunken? Lindert ein Euro das Elend des anderen? Und es bleibt diese Frage im Kopf, jedes Mal wieder: Trägt er oder sie selbst Schuld an der Misere? Durch Fahrlässigkeit oder Faulheit, durch Ignoranz oder bewusstes Fehlverhalten? Oder waren es Schicksalsschläge, traurige und tragische Verknüpfungen im Leben, die denjenigen dort auf die Straße brachten? Es bleibt das Gefühl der Scham und die bange Überlegung: Kann mir das nicht auch passieren?

Es gibt zu viele Obdachlose in Deutschland und viel zu viele Menschen, die in Abfallkörben wühlen müssen, um Pfandflaschen oder etwas anderes Verwertbares daraus hervorzukramen. In unserem Land wird immer offensichtlicher, dass die Armut wächst, wenn auch scheinbar nur langsam.

Für die meisten Menschen in Griechenland kam die Erfahrung des Abstiegs nicht in Zeitlupe, sondern im freien Fall. Das Land im Südosten der Europäischen Union liegt am Boden. Wirtschaft und Gesellschaft haben keine Kraft mehr. Doch sie brauchen Kraft und Zuversicht, um wieder auf die Beine zu kommen. Und um die Demütigung zu ertragen, dass das öffentliche Leben in Hellas nur noch mit Spritzen aufrechterhalten wird, mit Finanzspritzen der Euro-Staaten und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mitte Dezember gaben die Finanzminister der Euro-Zone die nächste Hilfszahlung aus dem Euro-Rettungsschirm frei, insgesamt gut 50 Milliarden Euro, zahlbar in verschiedenen Tranchen. Die wie vielte Hilfs-, Not-, Rettungs- und Stützungsaktion für das völlig überschuldete Griechenland war dies seit dem Beginn der Finanzmarktkrise im Jahr 2008? Um das zu beantworten, würden wohl auch gestandene Profis der deutschen Finanzpolitik einige Zeit überlegen müssen.

Griechenland ist der Obdachlose, der Bettler Europas. Angewiesen auf äußere Hilfe, um zu überleben und zu gesunden, und das möglichst in Würde. Der Hohn über vermeintlich faule Griechen ist in Deutschland längst verstummt. Denn viel zu offensichtlich ist, dass die Griechen in den vergangenen Jahren auch mit einem Maximum an persönlicher Anstrengung und trotz aller Zumutungen durch wirtschaftliche Reformen nicht in der Lage waren, die Erosion ihres Staats- und Gemeinwesens zu stoppen. Griechenland allein kann sich aus der Falle seiner Verschuldung längst nicht mehr befreien. Griechenland kann seinen Niedergang aus eigener Kraft nicht stoppen.

Heute geht es nicht mehr allein um die Frage, ob Staat und Kirche in Griechenland bei Armenspeisungen täglich einige Zehntausend Menschen mehr mit Brot und Suppe versorgen können. Es geht darum, dass Krankenhäuser schwangeren Frauen den Zugang zum Kreissaal verweigern, weil die kein Geld haben, um für die Entbindung ihres Kindes zu zahlen. Es geht darum, dass Schwerkranke sterben, weil niemand für deren Medikamente aufkommt, die in besseren Zeiten in jeder Eckapotheke für einige Euro erhältlich wären. Es geht darum, dass die Zahl der Suizide mit der Arbeitslosigkeit und Verelendung im Land rapide gestiegen ist, dass ganze Wohnblocks von Mietskasernen zu Seuchengebieten werden, weil die Basis für die grundlegende Hygiene wegbricht. Es fragt sich, ob Griechenland aus diesem Desaster mit zivilen Mitteln herausfindet oder ob das Land einem Bürgerkrieg entgegentaumelt.

Im Falle Griechenlands lässt sich dieselbe Frage stellen wie bei einem Obdachlosen auf der Straße: Wer trägt dafür die Verantwortung, wer hat das verschuldet? Man wird darauf keine klare Antwort finden. Aber ist es deshalb richtiger, dass vor allem die sozial schwachen Menschen in Griechenland nun das ausbaden müssen, was eine ganze Gesellschaft über Jahrzehnte verursacht hat? Ist es hinnehmbar, dass viele reiche Unternehmer - berühmt sind vor allem die griechischen Reeder - ihre Vermögen schon vor Jahrzehnten außer Landes brachten oder dass sie Vermögen auf der Grundlage komfortabler Gesetze anhäufen konnten - von denen sie ihrer Heimat in dunkelster Stunde keinen Euro-Cent zurückgeben? Griechenland ist eher eine korrupte als eine solidarische Gesellschaft, man misstraut dem anderen und ganz besonders dem Staat. Man zahlt keine Steuern, sondern Schmiergelder. Die Wirtschaft, die zumindest in einigen Teilen des Landes einst durchaus stark war, wurde durch politische und ökonomische Dummheit im Lauf von Jahrzehnten zersetzt, die Einführung des Euro mit gefälschten Bilanzen ertrickst.

Doch wäre es richtig, Griechenland deshalb fallen zu lassen? Helfen wir Hellas nur, um den Niedergang des Euro und Europas insgesamt zu verhindern - und damit am Ende auch den Verlust unseres eigenen Wohlstands?

Griechenland ist die Reifeprüfung der Europäischen Union. Wenn Griechenland verloren geht, dann macht die Idee eines gemeinsamen Europas keinen Sinn mehr. Den Griechen in schwerer Zeit zu helfen, bedeutet, Europa stärker zu machen für die kommenden Jahrzehnte. Europa ist eine Gemeinschaft, und der Wert von Gemeinschaft wird geprüft in Zeiten der Not.

Das kann sehr teuer werden, für viele Länder in der EU und für deren Bürger. Es werden noch viele Milliarden Euro fließen müssen, um Griechenland ein Minimum an Handlungsfreiheit zurückzugeben. Das Ziel, das die Retter heute anstreben, lautet: Innerhalb von zehn Jahren, bis zum Jahr 2022, soll die Quote der Staatsschulden auf unter 110 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung gedrückt werden. Der Zerfall der griechischen Gesellschaft muss also wenigstens so weit gestoppt werden, dass Griechenland seine heutige Wirtschaftsleistung zumindest erhält. Wer würde sein Eigenheim darauf verwetten, dass dies gelingt?

Griechenland zu retten bedeutet, einen Obdachlosen, der am Boden liegt, wieder aufzurichten und ihn davon zu überzeugen, dass er sein Leben aus eigener Kraft meistern kann. Meistern muss. Einem Land die Korruption auszutreiben, ist wie der Entzug des Alkohols bei einem Menschen. Einer Gesellschaft neuen Stolz und Mut zu geben, ist dasselbe wie bei jedem Einzelnen: Wer gerettet werden soll, muss sich retten lassen wollen. Wer Hilfe braucht, der muss sie auch annehmen. Nicht die Krankheit erscheint dem Suchtkranken als Feind, sondern derjenige, der ihm die Schmerzen der Therapie zufügt. Nicht nur deshalb ist mancher deutsche Politiker in Griechenland so verhasst.

Deutschland ist so reich und vital wie heutzutage kein anderes Land in Europa. Wir sind reich, weil uns geholfen wurde, geholfen dabei, unser Land nach zwei Weltkriegen wieder aufzubauen, Verbrechen zu bereuen und zu bestrafen, eine Gesellschaft zu errichten, die Sinnvolles für sich selbst und für die Völker anderer Länder tut.

Griechenland aufzufangen ist eine geringe Leistung verglichen damit, wie Deutschland inmitten Europas vor gut 65 Jahren von Europa und den USA wieder aufgerichtet worden war. Wie aus einem wirren, aggressiven Koloss ein fleißiger Freund und ein guter Nachbar wurde. Die Geschichte von Carepaketen und Berliner Luftbrücke, von Wirtschaftswunder und deutscher Einheit ist diejenige, die alle anderen Geschichten von Hilfe und Solidarität im 20. Jahrhundert weit überstrahlt. Das sollten wir nie vergessen.