Chef des Stahlkonzerns räumt auf. Ablösung von drei Vorständen bestätigt. Aufsichtsratschef Cromme bleibt aber weiter in der Kritik

Essen. Nach Milliardenverlusten, illegalen Preisabsprachen und Korruptionsvorwürfen greift ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger bei dem Stahlkonzern durch: "Ich werde hier nichts beschönigen, denn es ist offensichtlich, dass in der Vergangenheit sehr viel schiefgelaufen ist", sagte Hiesinger am Dienstag auf der Bilanzpressekonferenz in Essen. Es habe bisher ein Führungsverständnis gegeben, in dem Seilschaften und blinde Loyalität oft wichtiger gewesen seien als der unternehmerische Erfolg. Fehlentwicklungen seien in dem Unternehmen lieber verschwiegen als korrigiert worden. "Und es herrschte offenbar bei einigen die Ansicht vor, dass Regeln, Vorschriften und Gesetze nicht für alle gelten", fügte der Vorstandschef hinzu.

Der Traditionskonzern steckt in der größten Krise seit der Fusion von Thyssen und Krupp 1999. Für das abgelaufene Geschäftsjahr 2011/12 (Ende September) gab Hiesinger einen Verlust von fünf Milliarden Euro bekannt - der mit Abstand höchste Fehlbetrag in der Firmengeschichte. Zudem kommen auf ThyssenKrupp Schadenersatzforderungen wegen illegaler Kartellabsprachen mit Schienenherstellern zu. Der Aufsichtsrat bestätigte die vorzeitige Trennung von den Vorständen Olaf Berlien, Edwin Eichler und Jürgen Claassen. Damit habe man ein klares Zeichen für einen Neuanfang gesetzt, sagte Hiesinger, der erst seit Anfang 2011 den Konzern führt. "Wir etablieren konsequent eine neue Führungskultur, die auf Ehrlichkeit, Transparenz und Leistungsorientierung basiert."

Hiesinger setzt aber nicht nur auf ein besseres Image - der Manager will in den nächsten drei Jahren zwei Milliarden Euro einsparen und schließt dabei auch den Abbau von Arbeitsplätzen nicht aus. Er stellt des Weiteren die schwächelnde europäische Stahlsparte auf den Prüfstand, will aber an dem Geschäft nach eigener Aussage festhalten. "Wir wollen einen Weg finden, um Steel Europe erfolgreich weiterzuführen." Spekulationen, ThyssenKrupp wolle im Zuge der Sparanstrengungen im Konzern rund 3000 Jobs streichen, befeuerte er nicht. Es gebe solche Zahlen nicht. Den Vorstand will er aber verkleinern. "Wir werden nicht für alle Kollegen Nachfolger suchen."

An der Börse kamen die Worte des früheren Siemens-Managers gut an: Die zuletzt arg gebeutelte Aktie führte mit einem Plus von zeitweise knapp sieben Prozent auf 17,37 Euro bis zum Nachmittag die Gewinnerliste im Deutschen Aktienindex (DAX) an. Mit "Fantasie auf bessere Zeiten" begründete ein Händler die Entwicklung. Eine Dividende sollen die Aktionäre für 2011/12 allerdings nicht erhalten. Damit gehen sie erstmals leer aus. Zusagen für das neue Jahr machte Hiesinger nicht.

Manchen gingen die Konsequenzen aus der Misere nicht weit genug. "Bislang ist der Neuanfang offenbar auf den Vorstand beschränkt. Dabei braucht das Unternehmen einen tief greifenden Kulturwandel. Ohne eine offene Diskussion auch über die Rolle von Aufsichtsratschef Gerhard Cromme wird das nicht funktionieren", sagte Thomas Hechtfischer, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Wenn ThyssenKrupp nicht die notwendige Transparenz schaffe, werde die DSW Vorstand und Aufsichtsrat auf der nächsten Hauptversammlung nicht entlasten. Die stellvertretende Linke-Vorsitzende Sahra Wagenknecht forderte schnelle personelle Konsequenzen im Aufsichtsrat. "Es ist etwas faul in diesem Land, wenn Manager wie Cromme für einen verursachten Schaden von fünf Milliarden nicht zur Verantwortung gezogen werden, aber langjährige Angestellte wegen des Diebstahls von einem Brötchen oder 1,30 Euro fristlos gekündigt werden", sagte sie der Nachrichtenagentur dapd. Zugleich kritisierte Wagenknecht SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Wer wie dieser im Aufsichtsrat von ThyssenKrupp "jämmerlich versagt" habe, sei ganz bestimmt nicht geeignet, die Regierung eines Landes zu übernehmen.

Auch große Investoren verlieren zunehmend das Vertrauen in den Konzern. "Bei ThyssenKrupp wurden über Jahre strategische Fehler gemacht, das rächt sich jetzt. Es gibt etliche Mängel in der Corporate Governance, auf die wir immer wieder aufmerksam gemacht haben", sagte Henning Gebhardt, Leiter Aktienfondsmanagement Europa bei der Deutsche-Bank-Tochter DWS. Für Konzernchef Hiesinger steht Cromme trotz der Investorenschelte nicht infrage. "Wir haben mit Herrn Cromme jemanden, der uns absolut den Rücken freihält", sagte er. Auch daran wird deutlich - der neue starke Mann bei ThyssenKrupp ist Hiesinger.

Vor allem Managementfehler bei der Expansion in Übersee belasten den Konzern. Auf die neuen Stahlwerke in Brasilien und den USA wurden weitere 3,6 Milliarden Euro abgeschrieben. Die Kosten für den Bau waren auf zwölf Milliarden Euro in die Höhe geschossen. Zum Vergleich: Der Börsenwert des gesamten Konzerns liegt inzwischen nur noch bei 8,3 Milliarden Euro. Die Werke sollen bis Ende September 2013 verkauft werden. Es gebe "mehr als eine Handvoll Interessenten", sagte Finanzvorstand Guido Kerkhoff. Der Buchwert für das Geschäft liegt nun noch bei 3,9 Milliarden Euro - und damit im Rahmen der Analystenschätzungen. Auch in Europa sieht es nicht rosig aus: Das europäische Stahlgeschäft werde im ersten Quartal des Geschäftsjahres 2012/13 niedrigere Durchschnittserlöse erzielen, kündigte Kerkhoff an. Die sinkenden Rohstoffkosten könnten dies nicht ausgleichen.