Detlef Wetzel, seit 1980 in der IG Metall beruflich aktiv, spricht im Abendblatt über Ungerechtigkeiten in der deutschen Arbeitswelt.

Hamburg. Er ist ein Gewerkschafter durch und durch. Schon seit dem Jahr 1980 ist Detlef Wetzel in der IG Metall beruflich aktiv. Mittlerweile bestimmt der gelernte Werkzeugmacher, der auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur machte und später Sozialarbeit studierte, als Zweiter Vorsitzender die Tarifpolitik in Deutschlands mächtigster Arbeitnehmerorganisation. Der 59-Jährige gilt zugleich als Favorit für die Nachfolge von Berthold Huber, der die IG Metall derzeit leitet und womöglich im kommenden Jahr vorzeitig von seinem Posten zurücktreten wird. Das Abendblatt sprach mit Wetzel über den Wandel in der deutschen Arbeitswelt im Allgemeinen und das Thema Gerechtigkeit im Speziellen.

Hamburger Abendblatt: Sie sind seit gut 30 Jahren aktiver Gewerkschafter. Welche Zeiten waren aus Ihrer Sicht die besten für die Arbeitnehmer in Deutschland?

Detlef Wetzel: In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde zumindest der Versuch unternommen, den Wohlstand für alle zu mehren. Ludwig Erhard hatte dafür mit seiner Politik den Grundstein gelegt. Unter Bundeskanzler Willy Brandt ging es dann darum, allen Deutschen - unabhängig von ihrer Herkunft - die gleichen Bildungschancen zu eröffnen. In den 1980er-Jahren wurde dieses Denken durch eine streng neoliberale Politik abgelöst, die den Grundstein für die Ungleichheit in unserer Gesellschaft gelegt hat. Fatal ist, dass die jetzige Regierung die Ungleichheit der Gesellschaft weiter vorantreibt.

Und wie beurteilen Sie als Sozialdemokrat in diesem Zusammenhang die Arbeit der Bundesregierung unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder?

Wetzel: Die Agenda 2010 mit der Hartz-IV-Gesetzgebung hat die Unterschiede in der deutschen Gesellschaft von einem Spalt zu einer Kluft anwachsen lassen. In keinem anderen Land in Europa ist beispielsweise der Niedriglohnsektor so stark gewachsen wie in Deutschland. Fast jeder vierte Beschäftigte in unserem Land arbeitet im Niedriglohnsektor. Diese Spaltung in der Gesellschaft wurde durch die Regierung Schröder forciert.

Dennoch kommt Deutschland derzeit so gut wie kein anderes Land in Europa durch die Krise. Die Arbeitslosenzahlen sind niedrig, die Wirtschaft wächst. Folglich kann nicht alles, was in der Vergangenheit wirtschaftspolitisch gemacht wurde, falsch gewesen sein.

Wetzel: Es steht außer Frage, dass wir in einem tollen Land leben mit einer starken Industrie. Und genau diese Industrie bringt uns derzeit auch so gut durch die Krise in Europa. Aber das ist doch nicht der Erfolg der neoliberalen und ungerechten Arbeitsmarktpolitik der Vergangenheit. In der deutschen Industrie werden Spitzenlöhne gezahlt, und die Beschäftigten stellen Spitzenprodukte her, die weltweit wettbewerbsfähig sind. Das Niedriglohn-Problem gibt es ja nicht vorrangig in der Industrie, sondern vor allem im Dienstleistungsbereich. Besonders dort muss es zu Veränderungen kommen.

Was bedeutet das konkret?

Wetzel: Wir brauchen eine neue soziale Marktwirtschaft. Für die gleiche Arbeitsleistung eines Beschäftigten werden zum Teil völlig unterschiedliche Löhne bezahlt. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Staat jedes Jahr 60 Milliarden Euro an Beschäftigte zahlt, weil sie so niedrige Löhne von ihren Unternehmen erhalten, die unterhalb des Existenzminimums liegen.

Das heißt, ein flächendeckender Mindestlohn muss eingeführt werden?

Wetzel: Das ist nur ein Instrument. Wir brauchen einen umfangreichen Maßnahmenkatalog für eine Neuordnung auf dem Arbeitsmarkt. Dazu gehört die Regulierung von Leiharbeit und Minijobs ebenso wie eine Qualifizierungsoffensive angesichts des zu erwartenden Fachkräftemangels. Vor allem brauchen wir ein zukunftsfähiges arbeitsmarktpolitisches Leitbild von guter Arbeit.

Ist die gesellschaftliche Ungerechtigkeit nicht auch Resultat egoistisch werdender Individuen?

Wetzel: Das sehe ich definitiv nicht so. Der Egoismus in unserer Gesellschaft ist nicht größer geworden. Im Gegenteil. Der Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität war noch nie so groß wie heute. Das lässt sich aus Umfragen unserer Gewerkschaft und der aktuellen Allensbach-Studie ablesen. Aber das Individuum fühlt sich immer machtloser, wenn es um politische Fragen geht.

Zugleich hat die Bereitschaft der Belegschaften, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen, im Vergleich zu den 1970er-Jahren stark abgenommen. In vielen Betrieben gibt es heute nicht mal mehr einen Betriebsrat. Haben die Gewerkschaften hier gesellschaftliche Entwicklungen verschlafen?

Wetzel: Für unsere Branchen wie die Metallindustrie lasse ich diesen Vorwurf nicht gelten. Allerdings mussten auch wir als IG Metall uns in den vergangenen Jahrzehnten wandeln, auf neue Branchen, Unternehmen einlassen, neue Strukturen aufbauen. Das Ziel der deutschen Gewerkschaften muss es sein, dass es organisatorisch keinen weißen Fleck in diesem Land gibt. Denn ich bin mir sicher: Die Menschen sind für gewerkschaftliches Engagement zu interessieren. Dafür müssen wir sie aber bei den Themen abholen, die ihnen wichtig sind. Und dazu zählt vor allem die Gerechtigkeit im Arbeitsalltag und Fragen der sozialen Sicherheit.

Die deutsche Wirtschaft floriert vor allem wegen ihrer starken Industrie. Autos und Maschinen made in Germany genießen nach wie vor ein sehr hohes Ansehen bei den Kunden weltweit. Reicht das aus, um den Wohlstand hierzulande zu festigen oder gar zu mehren?

Wetzel: Die Industrie wird weiterhin ein wesentlicher Stützpfeiler unseres Wohlstandes bleiben. Aber die ausschließliche Orientierung auf den Export kann nicht unser alleiniges Zukunftskonzept sein. Wir brauchen mehr Stabilität auf dem Binnenmarkt. Deshalb muss möglichst viel Wohlstand für alle organisiert werden. Wir stehen in Deutschland vor einer Zäsur, müssen endlich eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, was gerecht ist. Die aktuelle Situation in diesem Land ist es jedenfalls nicht.