Seit 20 Jahren bürstet Reinhard K. Sprenger die Managementlehre gegen den Strich. Plädoyer für weniger Bürokratie und mehr Zusammenarbeit.

Hamburg. Ob er sich vorstellen könne, die Bundeskanzlerin zu beraten? Sein "Nein" kommt spontan. "Dazu nehme ich Freiheit zu ernst", schiebt Reinhard K. Sprenger ohne Zögern nach. Kein Zweifel, ein scharfsinniger, unabhängiger Kopf wie er würde dem Berliner Politikbetrieb guttun. Aber jemand, der so klug und irritierend provokant wider den Zeitgeist und dessen lähmende politische Korrektheit argumentiert, passt nicht in ein kurzfristig getaktetes parteipolitisches Korsett.

Wir treffen den Doktor der Philosophie im Empire-Riverside-Hotel auf St. Pauli. Sprenger tourt gerade durch die Republik, um sein neues Buch "Radikal führen" vorzustellen. Dunkles Sakko, offenes weißes Hemd, ein schwarzer Kaffee dampft vor ihm auf dem Tisch. Sprenger wirkt entspannt. Wie ein Autor eben, der sein bislang wichtigstes Manuskript abgeschlossen hat und nun die Vermarktungsmaschinerie seines Verlags begleitet.

Der Erfolg des Buches ist sicher. Denn Sprenger hat, was auf dem deutschsprachigen Markt für Managementbücher selten ist: treue Fans. Seine Bücher verstauben nicht im Regal, sie werden auch nach Jahren gelesen und zitiert, strotzen von Post-its und markierten Textstellen. Von seinem ersten Werk "Mythos Motivation" aus dem Jahr 1991 ist derzeit die 19., aktualisierte Auflage im Handel. 750 000 Sprenger-Bücher wurden bislang auf dem deutschsprachigen Markt verkauft.

Sprenger ist der wirkmächtigste deutsche Managementdenker der Gegenwart. Sein Denken ist nicht abstrakt theoretisch, sondern setzt sich pragmatisch, zupackend und provokant mit dem Leben des Einzelnen und der Wirklichkeit in Unternehmen auseinander. Wirtschaft ist seine Welt, das ist sein Alleinstellungsmerkmal, damit holt er Menschen in ihrem (beruflichen) Alltag ab. Dabei schreibt und spricht er verständlich, klar und mit bisweilen bissiger Ironie. Kein Wunder, dass gebildete Leser aller Altersklassen, vom Studenten bis zur gereiften Führungskraft, später am Abend die Fischauktionshalle füllen und den Worten des Meisters lauschen.

Frei entscheiden - und den Preis zahlen

In diesen Worten finden sich viele Gedanken wieder, die man seit 1991 in sechs Büchern sowie zahlreichen Interviews und Kolumnen lesen konnte. Der gebürtige Essener hat einen klaren gedanklichen Kosmos. Freiheit ist der Fixstern, um den sein Denken und Handeln kreist.

Schon in seiner Studienzeit verweigerte er sich fachlichen Einbahnstraßen: Er studiert Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Geschichte und Sport. Nebenbei macht er Bluesrock und ist Musikproduzent, der zwei Alben und mehrere Singles veröffentlicht hat, in der Band des Bochumer Schauspielhauses mit Herbert Grönemeyer spielte und sogar mit Tina Turner auftrat.

"Und immer gibt es einen, der alles besser weiß, doch tu was du willst - und zahl den Preis", heißt es in einem seiner eigenen Songs. Der Wahlschweizer macht eben gern "sein Ding" und entzieht sich gängigen Kategorisierungen. Ob er sich als Grenzgänger sehe? "Ich erlebe mich als völlig normal. Aber eines trifft zu: Alles Wichtige im Leben geschieht am Rand. Alle gesellschaftlichen Entwicklungen gehen von den Rändern aus. Dort sind die Kontraste, dort lässt sich am ehesten finden, was ich suche und wovon ich lebe: Erkenntnisse. Es stimmt. Ich fühle mich am Rand sehr wohl."

So jemand taugt nicht als Berater von Angela Merkel. Wohl aber als Sparringspartner der Bosse. Sie schätzen seine Unabhängigkeit, seine Praxiserfahrung, seinen internationalen Blick. Die meisten der DAX-100-Unternehmen und andere internationale Konzerne lassen ihre Führungsetagen immer mal wieder von ihm wachrütteln.

Sprengers Thesen brechen mit den herkömmlichen Strategien der Unternehmensführung. Seine Ideen sind revolutionär, weil sie einem fundamentalen Humanismus entspringen: Sprenger stellt den Menschen als Freiheitswesen in den Mittelpunkt seiner Führungstheorie. "Glück ist das Ergebnis von selbstverantwortlichem, entschiedenem Handeln", lautet seine Botschaft. Sein neues Buch "Radikal führen" beschäftigt sich im Gegensatz zu anderen Büchern nicht mit dem "Wie", sondern mit dem "Was" des Managements. Es beschreibt auf knapp 300 Seiten die Kriterien, an denen sich jede Führungskraft messen lassen muss, und er nennt die Ziele, die jeder Manager verfolgen sollte.

Unternehmen oder Kirchen?

Sprenger stellt Fragen. Fragen, die sich jede Führungskraft stellen sollte: "Was ist Ihr Beitrag als Führungskraft? Warum stehen Sie auf der Gehaltsliste?" Dabei stößt er auf ein Paradoxon: "Führungskräfte werden für alles Mögliche bezahlt, aber nicht für Führung." Sondern für Erfolg. Folgt man seiner Logik, so gibt es keine gute oder schlechte Führung, sondern nur erfolgreiche oder erfolglose Führung. Beinahe sarkastisch prangert Sprenger den Trend zum schlechten Gewissen in Deutschland an: "Führungskräfte sollen Modelle sein von Tugend, Moral und Werten, authentisch, Vorbilder möglichst, menschlich und fachlich gleichermaßen. Manchmal wird in Unternehmen und über Management geredet, als hätten wir uns auf einem Kirchentag verirrt." Doch "Gesinnungsnötigung" sei fehl am Platz. Nüchtern hält er den Gradmessern moralischer Unbedenklichkeit entgegen: "Es gibt bislang keine einzige Studie weltweit, die einen kausalen Zusammenhang zwischen ,guter Führung' und Unternehmenserfolg nachgewiesen hätte - so sehr ich mir das auch wünschte."

Der Sinn von Führung bestehe darin, das Überleben des Unternehmens zu sichern und in ihrer jeweiligen konkreten Rolle einen maximalen Beitrag dafür zu leisten. Sprenger definiert fünf Aufgaben von Führungskräften, die eherne Wegweiser im Dickicht der Managementmoden und gesellschaftspolitischen Aufgeregtheiten sind:

1. Zusammenarbeit organisieren

2. Transaktionskosten senken

3. Konflikte entscheiden

4. Zukunftsfähigkeit sichern

5. Mitarbeiter führen

Sprenger ist davon überzeugt, dass diese Kernaufgaben von Führung auch noch in vielen Hundert Jahren gelten.

Auf die Frage, welche der fünf Kernaufgaben denn die wichtigste sei, um die sich ein Manager kümmern sollte, antwortet der Bestsellerautor ohne zu zögern: Zusammenarbeit. Sprenger verweist auf unser evolutionsbiologisches Erbe: "Alleine ein Mammut erlegen wollen? Sinnlos. Ohne Zusammenarbeit kein Erfolg. Dieser Grundsatz gilt bis heute, von der Höhlengemeinschaft bis zum DAX-Unternehmen, von der Mammutjagd bis zur Produktpräsentation. Eigentlich", schränkt er ein.

Prämien befördern Egoismus

Denn die Wirklichkeit sehe ganz anders aus: "Da gilt als Schwächling, wer sein Ego für den Erfolg des Teams zurückstellt. Krude Bonussysteme erzeugen eine Mentalität des Absahnens und sorgen so dafür, dass der Triumph über den Kollegen wichtiger wird als der Erfolg am Markt." Mit Prämien, die an individuelle Leistungsziele gekoppelt seien, beförderten Unternehmen egoistisches Verhalten und zementierten Silodenken zwischen Abteilungen, erklärt Sprenger.

Dies widerspreche dem Zweck des Unternehmens: "Zusammenarbeit ist nicht die Summe von Einzelleistungen. Sondern ein Ergebnis, das im Idealfall nur durch den gleichzeitigen Einsatz aller erzielt werden kann. Vielen ist gar nicht klar, in welchem Maße Menschen in Organisationen wechselseitig voneinander abhängig sind - also nicht nur die unten von denen oben, sondern auch umgekehrt." Manche Manager seien so sehr in Hierarchiedenken verstrickt, dass man ihnen erst wieder eintrichtern müsse: "Ohne deine Mitarbeiter bist du handlungsunfähig und ohne deine Kunden schlicht ein Nichts."

In zwei Jahrzehnten als Unternehmensberater hat Sprenger beobachtet: "Häufig werden die Kunden vergessen, weil sich Unternehmen immer mehr mit sich selbst beschäftigen." Sein Grundsatz lautet: "Das Einzige, was zählt, ist die profitorientierte Schaffung von Kundennutzen. Wer Kunden hat, hat auch Probleme. Die Probleme der Kunden. Und die müssen gelöst werden. Der Existenzgrund des Unternehmens ist der Kunde."

Die Kunden werden vergessen

Je größer ein Unternehmen sei, desto größer sei die Gefahr, dass sich die Mitarbeiter nur noch mit internen Problemen befassen, statt sich auf Lösungen für die Kunden zu fokussieren. "Das Wuchern der Bürokratie ist der präzise Hinweis auf mutlose Führung."

Sprenger greift auf eine nobelpreisgekrönte Theorie des Ökonomen Ronald Coase zurück, die Transaktionskosten. Unter diesem Begriff werden alle Aufwendungen zusammengefasst, die notwendig sind, um ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung am Markt zu kaufen. Coase stellte schon 1937 fest, dass Transaktionskosten nicht nur am Markt, sondern auch im Unternehmen anfallen. Dort sind sie geringer, weil die interne Transaktion nicht über Preisfindung, sondern schlicht durch Weisung zustande kommt. Transaktionen im Unternehmen sind also ungleich effizienter als am Markt. "Der Kern der Unternehmensgründung ist die Marktausschaltung, um die Transaktionskosten zu senken. Doch diese Denkfigur ist nicht einmal im Topmanagement geläufig", sagt Sprenger.

Bürokratie lähmt Unternehmen

Geradezu genüsslich seziert er dann den Unsinn überbordender Bürokratie: "Jedes Meeting, jedes Monitoring-System, jedes Reporting-Tool, der Prozess der Zielvereinbarung, die Budgetplanungen - alles das erzeugt Transaktionskosten, die einzusparen das Unternehmen einst gegründet wurde." Sicher gebe es für einige Maßnahmen gute Gründe, räumt er ein: "Dort akzeptieren Sie dann einen Kostennachteil um eines wertvolleren Vorteils willen. Insgesamt aber ist festzustellen: Wir leiden zunehmend an bürokratischen Wasserköpfen und der Verlangsamung der Abstimmungsprozesse." Schuld daran trage zu einem großen Anteil die Politik: "Es ist für viele Unternehmen schwer bis unmöglich, sich gegen engmaschige Regulierung von Corporate Gover-nance, Compliance, Social Responsibility, Risikomanagement und internen Kontrollsystemen zu wehren, die ihnen vom Gesetzgeber und immer mehr notengebenden Institutionen aufgezwungen werden." Doch das sei nur die eine Wahrheit. "Gerade die Apostel der Effizienz, die Controller, erzeugen in ihrem Bemühen, die Effizienz zu steigern, oft neue und höhere Transaktionskosten. Manche Kontrollinstrumente werden nur eingeführt, weil sie als modern gelten und weil das alle machen."

Planwirtschaft, getarnt als Kapitalismus

Mit spürbarer Lust wettert Sprenger gegen das Instrument der Zielvereinbarung. "Es stammt aus einer Zeit planbarer Abschöpfungsmärkte und entsprach dem Selbstbild des Managers, der das Unternehmensschiff durch stürmische See lenkt." Doch die Märkte haben sich dramatisch verändert, die Zeiten des lenkenden Managers seien vorbei: "Muss nicht heute, wer erfolgreich sein will, hochflexibel sein und schnell reagieren können?", fragt der Wirtschaftsdenker.

Alles drängt, alles muss schnell gehen. "Aber gerade große Konzerne mit ihren vielfach ineinander verwobenen Zielsystemen tun sich schwer. Sie sind zu starr, die Systeme zu zeitaufwendig. Statt sich auf den Kunden zu konzentrieren, orientieren die Mitarbeiter ihr Handeln an Planzahlen", kritisiert Sprenger, "wer Planzahlen erreicht, ist kein Unternehmer. Sondern ein Bürokrat. Im Grunde ist das Planwirtschaft, die so tut, als sei sie Kapitalismus."

Außerdem finde echte Zusammenarbeit in großen Einheiten überhaupt nicht mehr statt. Sprenger greift erneut auf unser biologisches Verhaltenserbgut zurück: "Menschen leben in Nachbarschaften und nicht im Konzern. Nachbarschaften sind die wahre Quelle von Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit. Konzernstrukturen sind anthropologisch naiv", stellt er klar.

Brechen Großkonzerne dann zwangsläufig zusammen wie überdehnte Imperien? Sprenger wägt ab. "Nicht zwangsläufig. Konzerne haben dann eine Zukunft, wenn sie in der Lage sind, gleichzeitig groß und klein zu sein. Globalisierung und Lokalisierung sind zwei Seiten einer Medaille." Schiere Größe sei keine Strategie mehr. Im Gegenteil: "Je zentralistischer ein Unternehmen gebaut ist, desto anfälliger ist es. Eine hohe Autonomie dezentraler Einheiten hingegen macht ein Unternehmen stark und widerstandsfähig."

Anstatt den Machtbereich durch Größe auszudehnen und die eigenen Bezüge zu optimieren, sollten Manager das Unternehmen als Solidargemeinschaft mit einem gemeinsamen Bild von der Zukunft organisieren. "Verbinden, um zu stärken", das sei der Job von Managern. "Es geht um das Wechselseitige, durch das wir alle von unseren gemeinsamen Handlungen profitieren." Neudeutsch nennt man das gern Win-win. Letztlich, so betont Sprenger, "läuft es auf die Frage hinaus, ob man in einem Unternehmen arbeitet oder als Unternehmen."