Druck und Angst im Berufsleben wachsen - und damit die Risiken für die Gesundheit von Körper und Seele.

Hamburg. So sind sie, die Deutschen: Mit Fleiß und eiserner Disziplin marschieren sie gegen die Wirtschaftskrise an. Nur 7,2 Arbeitstage lang meldeten sich die deutschen Arbeitnehmer in den ersten Monaten dieses Jahres durchschnittlich krank. Das ist noch weniger Zeit als im vergangenen Jahr und der drittniedrigste Stand seit 1970, heißt es in einer neuen Erhebung des Bundeswirtschaftsministeriums.

Man könnte das als volkswirtschaftliche Erfolgsmeldung lesen, doch das Gegenteil erscheint eher angebracht. "In der Berufswelt erleben wir eine Art des 'Präsentismus'. Viele Menschen gehen angeschlagen oder krank zur Arbeit, weil sich krankzumelden vermeintlich nicht in diese Zeit passt", sagt der Arzt Ulrich Stöcker vom Arbeitsmedizinischen Zentrum in Reinbek. "Diese Entwicklung kostet die Allgemeinheit langfristig über das Gesundheitswesen, aber auch die Unternehmen selbst viel Geld. Wer krank zur Arbeit geht, ist nicht produktiv. Und wer eine Krankheit verschleppt, braucht später im Zweifel eine umso aufwendigere Therapie."

Wenn Kollegen hustend und schniefend im Großraumbüro sitzen, anstatt ihre beginnende Erkältung oder Grippe zu kurieren, ist das Irrationale offenbar: Der Kranke ist nicht fit für die Arbeit, den Gesunden droht Ansteckung in Kürze. Und das sind noch die harmloseren Risiken der modernern Arbeitswelt.

Angst macht krank

Die Angst um den Job drückt die Krankenstände in den deutschen Unternehmen. Doch Angst macht auch krank. "Anhaltende Schlafstörungen", sagt Stöcker, seien ein häufiges und "sehr ernstes Signal" dafür, dass Menschen eine wachsende Unsicherheit am Arbeitsplatz nicht verkraften, die häufig auch mit Überlastung verbunden ist.

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit dürfte die Kombination dieser beiden negativen Faktoren immer mehr Menschen zu schaffen machen. Für eine wachsende Anzahl krisenbedingt kranker Menschen hat der Praktiker Stöcker zwar noch keine Belege: "Akut ist die Wirtschaftskrise erst seit etwa einem Jahr zu spüren. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um daraus fundierte wissenschaftliche Schlüsse zu ziehen." Klar sei jedoch, dass das Tempo und die Anforderungen in vielen Berufen rasch zunähmen.

Wenige Statistiken

Statistiken über die gesundheitlichen Folgen der Wirtschaftskrise in der Arbeitswelt sind bislang rar. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung berichtete vor einigen Monaten vom Dauerstress in den Unternehmen, basierend auf einer Umfrage bei 1700 Arbeitnehmervertretern in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten. In 84 Prozent der deutschen Betriebe stünden Mitarbeiter ständig unter hohem Zeit- und Leistungsdruck, hieß es. Betroffen seien davon im Schnitt 43 Prozent der Belegschaft. Als Ursachen wurden in der Umfrage eine "zu enge Personaldecke" in den Unternehmen aufgeführt, die hohe Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter und die starke Abhängigkeit von Kundenvorgaben.

Deutliche Warnhinweise

Aktuelle Hinweise liefert eine Umfrage mit 500 Teilnehmern, die in der vergangenen Woche beim "Tag der Psychologie" in Österreich veröffentlicht wurde. Die Wirtschaftskrise belaste 60 Prozent der Befragten, hieß es bei dem Kongress, jeder sechste Befragte leide an Zukunftsangst und häufig auch an Schlafstörungen, Gereiztheit oder Niedergeschlagenheit. "Das sind deutliche Warnhinweise", sagte Ulla Konrad, die Präsidentin des österreichischen Psychologenverbands.

Ausgleich wichtig

Die Anforderungen im Beruf kann der Arbeitnehmer nicht oder nur schwer verändern. Auch gegen Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes gibt es kaum ein wirksames Mittel. Dennoch lässt sich der Druck des Arbeitslebens lindern: "Sehr wichtig sind ausgleichende Faktoren wie die eigene Familie, Sport oder auch Ehrenämter und Mitgliedschaften in Vereinen", sagt Arbeitsmediziner Stöcker. "Für die meisten Menschen ist aber auch die Arbeit ein wichtiger sinnstiftender Teil des Lebens. Der richtige Ausgleich zwischen diesen Lebensteilen ist entscheidend. Das funktioniert in ländlichen Regionen viel besser als in Ballungszentren, in denen etliche Menschen allein leben."

Soziale Kontakte aufbauen

"Soziale Netzwerke" hält der Wirtschaftspsychologe Peter Richter angesichts wachsenden Drucks in der Arbeitswelt für immer wichtiger und wertvoller. Wer sich mit Angst und Sorgen zurückziehe, gehe genau den falschen Weg. Solidarisierung zwischen den Arbeitnehmern und gemeinsames "Aufbegehren" gegen mögliche Fehlentwicklungen im Unternehmen seien allemal gesünder, als zu resignieren. Die Arbeitgeber wiederum müssten ihren Mitarbeiten gerade in dieser schwierigen Zeit den Spielraum lassen, sich sozial und inhaltlich zu engagieren.

Ginge es nach dem Soziologen Stephan Voswinkel, würde sich die Krankenstatistik in Deutschland ganz schnell wieder verschlechtern: "Ich glaube, wir müssen von der Haltung wegkommen, dass Krankheit eine Schwäche ist. Arbeit muss auch krankheitsfähig sein."