“Erfahrungsschatz nutzen“: Hamburger Versandhändler reagiert auf Nachwuchsmangel

Hamburg. Angesichts des immer größer werdenden Fachkräftemangels und des demografischen Wandels mobilisiert der Hamburger Otto-Konzern nun seine Rentner als zusätzliche Arbeitskräfte. Der weltgrößte Versandhändler hat mit der Senior Expert Consultancy GmbH eine eigene Tochtergesellschaft gegründet, in der ausschließlich Ruheständler des Unternehmens beschäftigt werden. Sie sollen ihr Expertenwissen in den Konzern einbringen und helfen, zeitweilige Lücken im Arbeitsprozess aufzufüllen.

Aus Sicht der zuständigen Personaldirektorin Sandra Widmaier können sowohl der Konzern als auch die Pensionäre von der neuen Initiative profitieren. "Ehemalige Mitarbeiter, die jetzt in Rente sind, genießen so das Gefühl, weiterhin gebraucht zu werden. Als Unternehmen nutzen wir ihren Erfahrungsschatz und Leistungsstandard, zumal sie diesen meist ohne Einarbeitungszeit einbringen können."

Einsatzfelder für die Rentner sind unter anderen der Einkauf, die Finanzabteilung oder auch der IT-Bereich. Manch ein älterer Mitarbeiter verfügt hier noch über Kenntnisse alter Computersysteme, die gerade durch neuere Geräte abgelöst werden. So ist es beispielsweise im Fall von Jochen Michalczyk, 69, der als einer der Ersten nach der Rente wieder bei Otto anheuerte. "Ich freue mich vor allem, dass ich mein Fachwissen an die jüngeren Kollegen weitergeben kann", sagt er.

50 bis 60 Senioren will der Konzern im ersten Jahr einsetzen, insgesamt kann die Gruppe auf rund 1000 Personen im Alter zwischen 65 und 75 Jahren zurückgreifen. Die Pensionäre sollen allerdings ausschließlich in zeitlich befristeten Projekten und bei temporären Engpässen zum Einsatz kommen, um jüngeren Arbeitnehmern nicht ihre Jobs wegzunehmen.

Unter diesen Bedingungen begrüßt auch der Betriebsrat des Konzerns das Projekt. Die Arbeitnehmervertreter hatten den Vorstand zuletzt wegen eines drohenden Stellenabbaus bei den deutschen Versendern Otto, Baur und Schwab kritisiert, mit dem der Konzern die eigenen Strukturen verschlanken und so auf die wachsende Konkurrenz im Onlinebereich reagieren will.

Abgeschaut hat sich Otto die Pensionärsfirma bei dem Stuttgarter Autozulieferer und Haushaltsgerätehersteller Bosch, der schon seit 1999 auf das Know-how seiner ehemaligen Beschäftigten setzt. 600 sogenannte Senior-Experten sind für das Unternehmen rund um den Globus im Einsatz und kümmern sich in den USA, Indien, England oder Brasilien um die Inbetriebnahme von neuen Fertigungslinien oder die Reorganisation des Rechnungswesens.

Neben Otto nutzen auch andere Hamburger Firmen das Potenzial ihrer ehemaligen Mitarbeiter. So verfügt die Drogeriekette Budnikowsky über einen "Rentner-Pool" mit derzeit 16 Pensionären, die bei großen Aktionen wie Neueröffnungen oder auch in Krankheitsfällen zum Einsatz kommen.

"Solche Projekte zeigen, dass die Wertschätzung für die Erfahrung älterer Arbeitnehmer bei den Unternehmen wächst", sagt der Sprecher der Hamburger Handelskammer, Jörn Arfs. Angesichts des Nachwuchsmangels klinge der "Jugendwahn" langsam ab. Eine große Welle hin zu einem verstärkten Einsatz von älteren Arbeitnehmern könne er aber noch nicht erkennen.