Erstmals unter 1,0 Prozent. Vor allem Banken aus Südeuropa profitieren. Kaum Effekt auf die Konjunktur

Hamburg. Mario Draghi hat die Erwartungen des Finanzmarkts nicht enttäuscht - jedenfalls nicht völlig: Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) unter der Leitung seines italienischen Präsidenten hat den Leitzins auf das historisch niedrige Niveau von 0,75 Prozent gesenkt. Seit Mitte Dezember lag er bei 1,0 Prozent.

Normalerweise kurbelt eine Leitzinssenkung die Wirtschaft an, denn wenn sich Banken günstiger bei der EZB Geld leihen können und diese verbesserten Konditionen in Form billigerer Kredite an die Privat- und Firmenkunden weitergeben, schiebt das den Konsum und die Investitionen an. Europa könnte einen solchen Effekt gut gebrauchen, denn zuletzt bewahrte nur ein mäßiges Wachstum in Deutschland die Euro-Zone vor der Rezession.

In der aktuellen Situation dürfte der Beschluss der EZB in dieser Hinsicht aber kaum etwas bewirken, glauben Experten. "Das Zinsniveau war schon bisher so niedrig, dass ein weiterer Viertelprozentpunkt nichts mehr ausrichten wird", erklärt Jochen Intelmann, Chefvolkswirt der Haspa. Insbesondere in Deutschland werde der Einfluss auf das Investitions- und Konsumverhalten kaum messbar sein. "Allenfalls könnte die Zinssenkung den Euro-Kurs weiter schwächen und damit der Exportwirtschaft helfen", sagt Carsten Klude, Chefvolkswirt des Hamburger Privatbankhauses M.M. Warburg & CO.

Aber die primäre Zielrichtung der Notenbank sei nicht die Konjunktur gewesen: "Banken aus Problemländern bekommen nun die Möglichkeit, sich günstiger bei der EZB zu refinanzieren." Südeuropäische Geldhäuser hatten außerdem einen großen Teil der rund eine Billion Euro, die die EZB bei zwei sogenannten Langfrist-Tendern der Branche im Oktober und im Februar zur Verfügung gestellt hatte, aufgesogen. Auch darauf müssen sie nun nicht mehr 1,0 Prozent, sondern nur noch 0,75 Prozent Zinsen zahlen.

Mit diesen Tendern, von Draghi nach einem großkalibrigen Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg "Dicke Bertha" benannt, hatten die Währungshüter den von der Schuldenkrise arg bedrängten Banken dringend benötigte Liquidität verschafft.

Manchen Südeuropäern gewährt der EZB-Beschluss auch ganz direkt Vorteile: In Spanien und Italien sind - anders als in Deutschland - zahlreiche Hypothekenkredite an die Geldmarktzinsen gekoppelt, damit dürfte die monatliche Belastung für die Hausbesitzer nun leicht sinken.

Davon abgesehen habe der Zinsschritt aber hauptsächlich einen "marktpsychologischen Effekt", zumal die Absenkung angesichts schwacher Konjunktur und zurückgehender Inflationsrisiken vertretbar gewesen sei, meint Klude. Als kleine Überraschung wertet er, dass die EZB den Einlagenzinssatz von bisher 0,25 Prozent auf null gesetzt hat. "Man will damit offenbar Druck auf die Geschäftsbanken machen, das Geld über Kredite in die Realwirtschaft zu schleusen und nicht bei der EZB zu parken", so Klude.

Ob dies Wirkung zeige, sei aber zweifelhaft: "Die Kreditnachfrage in der Wirtschaft ist schwach und bei den Banken überwiegt der Sicherheitsgedanke - sie haben ja auch schon deutsche Staatsanleihen zum Nullzins gekauft." Insgesamt müsse man sich die Frage stellen, "ob die Geldpolitik in dieser Situation an ihre Grenzen stößt."

Allerdings hatten manche Beobachter damit gerechnet, das Draghi weitere Aktionen zur Bekämpfung der Euro-Krise wie etwa einen erneuten Langfristtender oder Staatsanleihekäufe durch die EZB zumindest andeutet. Über derartige "unkonventionelle Maßnahmen" habe man im Rat jedoch nicht gesprochen, so Draghi. Nach seiner Auffassung sind nun erst einmal die Rettungsschirme EFSF und ESM am Zug.

Draghi ließ gestern durchblicken, dass er kein Freund der Idee ist, sie mit dem Geld der EZB bei Anleihekäufen zu unterstützen: "Ich glaube nicht, dass etwas damit gewonnen wäre, wenn man die Glaubwürdigkeit einer Institution zerstört, indem man sie auffordert, sich außerhalb der Grenzen ihres Mandates zu bewegen." Ohnehin sei das finanzielle Umfeld "heute etwas weniger gespannt als noch vor einem Monat".

Mit Draghis "halbherziger Reaktion" bleibe Europa verwundbar, sagt dazu Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Hamburger Privatbank Berenberg. Es gebe nun ein erhebliches Risiko für eine erneute Verschärfung der Krise über den Sommer.

Der EZB-Chef ließ in der Pressekonferenz nach der Zinsentscheidung nicht erkennen, ob der Leitzins noch in diesem Jahr weiter heruntergeschraubt werden könnte. "Draghi wird erst abwarten wollen, in welchem Ausmaß es der Politik in den nächsten Monaten gelingt, die Beschlüsse zur Schuldenkrise umzusetzen", sagt Haspa-Analyst Intelmann - "und viele Schüsse hat die EZB bei den Zinsen auch nicht mehr frei."