Der Ende Oktober ausscheidende Chef Jean-Claude Trichet sieht Risiken für die Konjunktur. Außerdem fühlt er sich missverstanden.

Hamburg. Es war die vorletzte Zinsentscheidung von Jean-Claude Trichet - und nach Ansicht vieler Beobachter eine seiner wichtigsten. Zwar beließ der Ende Oktober ausscheidende Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) den Leitzins unverändert bei 1,5 Prozent. Vor allem aber steckte er den geldpolitischen Kurs für die nächsten Monate ab: Die im April angesichts damals zunehmender Inflationsgefahren begonnene Phase der Zinserhöhungen wird unterbrochen, auf absehbare Zeit wird es keine weitere Anhebung geben.

Denn nun haben Trichet und sein designierter Nachfolger Mario Draghi ein anderes Problem: In Europa droht ein vorzeitiges Ende der Konjunkturerholung nach der tiefen Krise 2008/09. "Wir erwarten, dass der Euro-Raum moderat wachsen wird, allerdings begleitet von besonders hoher Unsicherheit und verstärkten Abwärtsrisiken", sagte Trichet gestern nach der Sitzung des EZB-Rats.

Für 2011 reduzierte er die Prognose für das Wachstum in der Euro-Zone von zuvor 1,9 auf 1,6 Prozent. Für das kommende Jahr rechnet Trichet nunmehr mit einem Plus von 1,3 Prozent, während man bisher einen Zuwachs von 1,7 Prozent angenommen hatte.

"Noch vor einem Monat haben wir die Wachstumsrisiken für ausgeglichen gehalten, das ist heute nicht mehr der Fall", erklärte der Notenbankpräsident. "Unsere Einschätzung der wirtschaftlichen Lage hat sich signifikant geändert." Dies seien "sehr deutliche Äußerungen", sagte Carsten Klude, Chefvolkswirt des Hamburger Bankhauses M.M.Warburg, dem Abendblatt. "Sie zeigen, dass man eingesehen hat, dass die Welt inzwischen eine andere ist als vor vier Wochen."

An der Börse wurden diese Signale nicht gut aufgenommen. Der Deutsche Aktienindex (DAX) rutschte kurzzeitig um bis zu 1,7 Prozent ab, erholte sich dann jedoch wieder. Am Devisenmarkt gab der Euro um mehr als einen halben Cent auf Kurse um 1,3950 Dollar nach.

Von der Seite der Verbraucherpreise allerdings haben sich die Risiken aus Sicht von Trichet zuletzt nicht weiter vergrößert. Er erwartet für 2011 unverändert eine Teuerungsrate von 2,6 Prozent, die im nächsten Jahr aber auf 1,7 Prozent nachgeben werde. Damit wäre wieder Preisstabilität erreicht.

Vor diesem Hintergrund und der wachsenden Gefahr eines erneuten Konjunkturabsturzes haben zuletzt mehrere prominente Fachleute, darunter der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stieglitz, die EZB zu Leitzinssenkungen aufgefordert. Die Notenbank solle ihre Zinserhöhungen von April und Juli von jeweils 0,25 Prozentpunkten zurückzunehmen, weil sich der Euro-Raum klar in einem Abschwung befinde, hatte Stieglitz argumentiert.

Doch diesen Forderungen widersetzt sich Trichet; in seinen Ausführungen gestern fand sich kein Hinweis auf eine Bereitschaft, ihnen nachzugeben. "Die EZB steuert einen Kurs der Stabilität und Kalkulierbarkeit", sagte dazu Rudolf Hickel, Direktor des Bremer Instituts Arbeit und Wirtschaft. Er begrüßt Trichets Haltung: "Bei einem Leitzinsniveau von 1,5 Prozent hat die EZB noch ein bisschen Munition, falls es wirklich zu einer Rezession käme. Es ist wichtig, dass man sich diese kleine Reserve erhält."

Solange die Staatsschuldenkrise nicht bedrohlich eskaliere, überwiege bei der Notenbank die Sorge über die Risiken einer zu expansiven Geldpolitik, meint Michael Schubert, Analyst bei der Commerzbank. So könnten allzu niedrige Zinsen "zu einer übertriebenen Risikobereitschaft führen und damit das Entstehen von Blasen fördern." Außerdem könnten sehr niedrige Refinanzierungskosten "Hausbauer und Finanzminister davon abhalten, Schulden abzubauen".

Damit dürfte die EZB den Leitzins nun bis Mitte 2012 unverändert lassen, erwartet Holger Schmieding, Chefvolkswirt des Hamburger Privatbankhauses Berenberg. Dies gelte allerdings unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaft in der Euro-Zone im zweiten Halbjahr 2011 zwar stagniert, im Lauf des nächsten Jahres aber wieder auf einen Wachstumspfad einschwenkt.

Ob dieses Szenario Realität wird, ist aber fraglich. "Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich die Frühindikatoren deutlich verschlechtern", sagte Klude. Und zumindest für das Schlussquartal 2011 prognostizierte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Einbruch der Konjunktur in Deutschland: Das Bruttoinlandsprodukt werde voraussichtlich mit einer auf das Jahr hochgerechneten Rate von 1,4 Prozent zurückgehen. "Die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession ist zwar nicht hoch, aber man kann es nicht mehr völlig ausschließen", so Klude. Hickel zeigte sich etwas pessimistischer: "Die Rezessionsgefahr hat enorm zugenommen." Sollten sich die Befürchtungen bewahrheiten, sei die Politik gefordert. Die Bundesregierung müsse dann mit einem weiteren Konjunkturprogramm gegensteuern.

Abgesehen von den Bemerkungen zur Geldpolitik nutzte Trichet gestern die Gelegenheit, Kritik von Politikern an der Leistung der Notenbank und Forderungen nach einer Rückkehr Deutschlands zur D-Mark ungewöhnlich scharf zurückzuweisen. Die EZB sei geschaffen worden, um Preisstabilität zu gewährleisten, sagte er: "Wir haben geliefert. Tadellos. Dafür würde ich gerne Glückwünsche hören." In Deutschland sei die EZB hinsichtlich der Preisstabilität erfolgreicher gewesen als die Bundesregierungen mit der D-Mark in den 50 Jahren vor dem Euro, erklärte Trichet. Das sollte anerkannt werden.