Die letzten Handwerker ihres Gewerks. Thomas Petrick ist einer von zwei Reetdachdeckern in Hamburg

Hamburg. Thomas Petrick steht auf dem Dach. Die Dornen an der Unterseite seiner Aluleiter hat er tief ins Reet gesteckt. So findet der 52-Jährige festen Halt. Unter ihm am Dachansatz hat er die Schilfbündel mit dem eisernen Klopfbrett - einem Werkzeug, um das Schilf zu formen - bereits in die richtige Lage gebracht. Mehr als 30 Zentimeter dick bilden sie das erste Stück einer Dachfläche von 50 Quadratmetern, die Hausbesitzer Klaus Peters bestellt hat. Mit zwei großen, stählernen Nadeln zieht Petrick Draht um die Reetbündel und zurrt sie an den waagerecht aufgenagelten Dachlatten fest.

Noch dreimal in den nächsten Jahren wird er wieder kommen, um das gesamte Dach des 350 Jahre alten Hauses in den Vierlanden zu sanieren. So ist es mit dem Auftraggeber vereinbart. Mit Peters ist Petrick per Du. Schon sein Vater hat vor gut 20 Jahren für den Bildhauer gearbeitet. "Kunden wie er bleiben beim Reet, weil sie die Häuser auch wegen dieser Dächer gekauft haben", weiß der Handwerker aus Erfahrung. Zudem müsste für Schindeln der Dachstuhl neu aufgebaut werden.

Nur ein weiterer Firmenchef neben Petrick deckt in Hamburg noch Dächer mit getrocknetem Schilf. Vom Aussterben bedroht ist das Handwerk dennoch nicht. "Es gibt außer in Hamburg in Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein genug Reetdächer für die wohl 150 Firmen, die sich mit dem Geschäft befassen", sagt der Hamburger, der aus Kirchwerder ganz in der Nähe der Baustelle stammt und auch dort wohnt. Er selbst betreut 300 Gebäude, die meisten zwischen Bergedorf und der Elbe sowie zwischen Altengamme und Moorfleet. "Die Kunden sind treu. Viele von ihnen hat man sein Leben lang."

Aufträge für neue Reetdächer sind dagegen selten. Das liegt vor allem daran, dass Baugrundstücke heute oftmals nicht groß genug sind, damit der vorgeschriebene Abstand zu anderen Häusern oder gar weiteren reetgedeckten Dächern eingehalten werden kann. Zudem verlangt die Arbeit mit dem Material aus der Natur ein gut gefülltes Portemonnaie. "Mit dem Abdecken der alten Dächer und neuen Dachlatten kostet ein Quadratmeter Reetdach 120 Euro. Das ist mehr als doppelt so viel wie bei Schindeln", rechnet Petrick vor. 250 000 Euro Jahresumsatz erzielt er mit seinem Drei-Mann-Betrieb, der auf Reetdächer spezialisiert ist.

Das getrocknete Schilf als Grundstoff für seine Arbeiten bezieht Petrick heute über den Großhandel, der in Ungarn, Polen und der Türkei, vor allem aber in China bestellt. Das Reet aus Fernost erreicht den Hamburger Hafen im Container. Aus Deutschland kommen dagegen allenfalls noch fünf Prozent von Petricks Ware. Kein Wunder: Nur auf dem Darß und rund um Fehmarn wird heute noch Schilf geerntet. "Früher haben Bauern in Norddeutschland die Pflanzen noch selbst geschnitten, sie getrocknet und dann die Dachdecker gerufen", sagt Petrick.

Als sein Vater Heinz Mitte der 50er-Jahre mit dem Handwerk beginnt, sind diese Zeiten schon vorbei. Für den Handwerksmeister ist es selbstverständlich, dass seine Söhne Thomas und Matthias dem Vater helfen müssen. Mit 13, 14 Jahren räumen sie sonnabends Baustellen auf und werden sogar von der Schule befreit, wenn Not am Mann ist. Thomas Petrick empfindet dies vor allem als "Zwang", selbst wenn der Vater einen guten Lohn zahlt. "Aber wir wurden nie gefragt, ob wir arbeiten wollten", erinnert er sich.

Seine Reaktion darauf ist deutlich. Er geht 1976 zu Siemens nach Hamburg, absolviert eine Lehre zum Fernmeldeelektroniker und wird Gruppenleiter. Gut vier Jahre später jedoch steigt er frustriert von Akkordarbeit und für ihn vagen Berufsperspektiven aus. "Mit 1000 Dollar in der Tasche bin ich durch Europa gefahren und schließlich in Israel gelandet", erzählt er über seine Auszeit von vier Monaten. Petrick arbeitete als Erntehelfer, verleiht seine Dollar (mit Gewinn) an die inflationsgeplagten Einheimischen und kommt mit 800 Dollar zurück. "Das war genug, dass ich mir sogar einen Rückflug aus Israel leisten konnte."

Weil er nach seiner Reise als Elektroniker nicht Fuß fassen kann, entschließt sich der Rückkehrer doch noch, Dachdecker zu werden. "Das Talent hatte ich ja." Nach der Lehre in Niedersachsen und anschließender Abendschule legt er eine Prüfung zum Reetdachdeckermeister vor der Innung in Stade ab. 1991 macht er sich selbstständig. Und wenig später kauft er seinem Vater, als der mit 70 Jahren aufhört, für 30 000 Mark ein Fahrzeug und Arbeitsgeräte ab. Aber auch als Firmenchef bleibt Petrick, was er immer war: ein Mann der Tat. "Ich bin jeden Tag mit auf der Baustelle", sagt er. Die Buchführung erledigt abends seine Frau Christina zu Hause im Büro.

Genau wie Vater Heinz will auch Thomas Petrick bis zu seinem 70. Lebensjahr weitermachen. Das sind von heute an noch 18 Jahre. Ob bis dahin sein Sohn Julius, der heute 17 ist und Koch werden will, doch noch in das Geschäft einsteigt, ist nicht entschieden. Natürlich hat er ebenfalls seinem Vater beim Dachdecken mit Reet geholfen. "Schließlich wollte auch er zwischendurch mal Geld verdienen", sagt der Vater. "Aber diesen Zwang wie bei meinem Vater hat es von mir und meiner Frau für ihn nie gegeben."