VW hat die Produktionsstätte in Osnabrück übernommen, will 1800 Jobs schaffen. Auch ein Porsche soll bald aus dem Norden kommen.

Osnabrück. Boris Pistorius kann seine Freude kaum verhehlen, die Augen des Osnabrücker Oberbürgermeisters strahlen mit dem versilberten Modell des Karmann Ghia auf seinem Schreibtisch um die Wette. "Ich bin 700 Meter von Karmann entfernt aufgewachsen, schon als Junge habe ich vor dem Werkstor gestanden und die Autotransporter bestaunt, die die schicken Wagen auf ihre Reise in die ganze Welt brachten", sagt Pistorius und blickt vom Rathaus hinaus auf die Osnabrücker Kaufmannshäuser mit ihren hohen Giebeln, erbaut von reichen Leinenhändlern, lange bevor die Stadt mit Karmann zu einem der bedeutenden Automobilstandorte Deutschlands aufstieg. Selber geleistet habe er sich die Wagen "made in Osnabrück" nie, ein Käfer Cabrio, das "Erdbeerkörbchen" Golf Cabrio oder später der Mercedes CLK, das passte nie so recht zum Geldbeutel oder der Lebensplanung des SPD-Politikers. Heute hat der 51-Jährige seine Meinung geändert. "Ein Dienstwagen von VW, das wäre klasse."

Immerhin ist Pistorius seit Kurzem politisches Oberhaupt des bundesweit jüngsten VW-Standortes. Mit dem ersten Werk, das der größte europäische Autobauer seit Jahrzehnten in Deutschland aufgebaut hat. Für die Produktion des neuen, lange erwarteten Golf Cabrios. Eine 300-Millionen-Euro-Investition auf dem Gelände der insolventen Wilhelm Karmann GmbH, die durch die Krise und den erbitterten Preiskampf unter den Zulieferern in Geldnot geriet. Eigentlich schien in Osnabrück alles verloren. Der Autobau stand vor dem Ende. Doch dann entschied sich VW, Teile von Karmann zu kaufen. In einer Zeit, als die Branche die Kunden nur noch mit Staatshilfen in Form der Abwrackprämie zu Autokäufen verleiten konnte.

Für die Stadt war die Entscheidung wie ein Sechser im Lotto. "Eine tolle Überraschung", nennt der Bürgermeister den Schritt der Wolfsburger. Für den Wolfsburger Autobauer ist er offenbar industrielle Logik. "Volkswagen will bis 2018 der ökonomisch und ökologisch führende Automobilhersteller weltweit sein", sagt Ludger Teeken. Mit den vorhandenen Kapazitäten sei das damit verbundene ehrgeizige Wachstumsziel nicht zu verwirklichen gewesen, begründet der Sprecher der Geschäftsführung von Volkswagen Osnabrück das Engagement.

Teeken war bisher 29 Jahre bei Karmann und schaut jetzt aus dem zweiten Stock des alten Verwaltungsgebäudes auf 361 000 Quadratmeter Fabrikfläche, die VW in den vergangenen Wochen mit neuen Oberlichtern und 5000 Liter Farbe aufgehübscht hat. In der Investition von 300 Millionen Euro sind diese Renovierungen, aber vorwiegend auch die produktbezogenen Ausgaben für das Golf Cabrio, enthalten. Die Ingenieure in Osnabrück haben das Fahrzeug gemeinsam mit den Kollegen aus Wolfsburg entwickelt.

VW-Chef Martin Winterkorn und sein Aufsichtsrat hatten bei dem Votum für eine Volkswagen Osnabrück GmbH den sicher schmeichelhaften Titel des weltgrößten Autoherstellers im Visier - zugleich aber auch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff im Rücken. Immerhin spielt das Industriemärchen in Wulffs Heimatstadt. Hier ist er gemeinsam mit Oberbürgermeister Pistorius zur Schule gegangen, hier hat er Jura studiert und seine steile Karriere in der CDU begonnen. Und immerhin hatte der Einfluss des Landes Niedersachsen als Großinvestor bei VW die Wolfsburger vor der Schmach bewahrt, von Porsche übernommen zu werden.

Der Autobauer konnte den Spieß umdrehen und hat nun selber die Macht über die Produktionsplanung für Porsche: Neben dem Golf Cabrio werden die Osnabrücker bei guter Nachfrage auch den neuen Porsche Boxster und den Porsche Cayman fertigen. Die Niedersachsen übernehmen damit Überläufe aus dem Porsche-Werk Zuffenhausen, die eigentlich an den österreichischen Zulieferer Magna gehen sollten. "Volkswagen hätte hier kaum investiert, wenn der Konzern nicht an unseren wirtschaftlichen Erfolg glauben würde", sagt Finanzchef Henning Jens, der mit dieser Aussage der Karmann-Rettung offenbar jedes Geschmäckle nehmen will. "Wir sind auf gutem Wege, in Osnabrück bereits in diesem Jahr schwarze Zahlen zu schreiben." Das Golf Cabrio für 23 000 Euro soll schon im Sommer bei den Händlern stehen. Jens ist stolz, dass der Produktionsanlauf in nur 15 Monaten gelang. "Dabei waren die Bedingungen so anspruchsvoll wie für einen Sportler, der sich während eines 100-Meter-Laufs auch noch die Schuhe zubinden muss", lobt er.

Die in den vergangenen Jahren von Karmann vernachlässigten Werkshallen mussten während der startenden Produktion renoviert werden. Hunderte Mitarbeiter, davon 80 Prozent ehemalige Karmänner, wie die Einheimischen sagen, stellte VW in dieser Anlaufphase ein. Bis zum Jahresende wird VW in Osnabrück 1800 neue Beschäftigte haben. Mit sicheren Jobs in der Industrie, im Herzen des Hochlohnlandes, in dem Experten schon vor Jahren den teuren Autobau totgesagt hatten.

Insgesamt 8000 Bewerbungen waren bei Volkswagen eingegangen. Zwar zählt die Region zwischen dem Teutoburger Wald und dem Wiehengebirge nur rund sechs Prozent Arbeitslose, aber der Autobauer ist neben der Kupferhütte KME der größte Industriearbeitgeber Osnabrücks.

Zwei der Bewerbungsschreiben kamen von Mariola Ochtmann und ihrem Mann Darius. Wenige Wochen später legten sie die Zusagen zu den anderen Paketen unter den Weihnachtsbaum. "Es waren unsere schönsten Geschenke", sagt die gebürtige Polin. Die Erinnerung an die Erlösung nach Monaten der Unsicherheit für die dreiköpfige Familie treibt ihr noch heute die Tränen in die Augen. Beide hatten bei Karmann ihre Arbeit verloren, sie schlugen sich mit Zeit- und Saisonarbeiten durch. Die Wohnung in der Nähe des Werkes hätten sie damit nicht mehr lange halten können.

Zwar wird VW in Osnabrück nur mit dem Golf Cabrio und den Porsche-Überläufen so schnell nicht wieder auf 7500 Beschäftigte kommen, ein Rekord, den das Vorgängerunternehmen noch im Jahr 2004 erreicht hatte. Aber die Zeiten haben sich in der gesamten Branche geändert. Der gefürchtete VW-Chefeinkäufer José Ignacio López hatte das Osnabrücker Familienunternehmen dereinst für seine Effizienz und das Know-how insbesondere im Cabrio-Bau gelobt. Danach aber trieb der ehemalige "Würger von Wolfsburg" die Lieferanten durch sein Kostenkorsett in eine erste Krise. Die Leidenszeit für die verbliebenen Auftragsfertiger wie Magna oder Valmet, die sich häufig auf Cabrios und Sportwagen spezialisiert hatten, dauert bis heute an. Der Grund: Die großen Hersteller können heute dank moderner Produktionssysteme auch in ihren eigenen Werken Nischenmodelle fertigen.

Auch die Beschäftigten in dem neuen VW-Werk sind sich im Klaren darüber. Die von der Insolvenz betroffenen Karmänner ließen sich bei der Übernahme denn auch auf Gehälter unter dem Niveau der übrigen westdeutschen VW-Beschäftigten und sogar unterhalb des niedersächsischen Metalltarifs ein. Dafür wurden sie mit einer Beschäftigungsgarantie bis 2014 belohnt. VW Osnabrück ist damit auch ein Symbol der Hoffnung für die deutsche Industrie - und für den Nachwuchs.

"Mein Sohn möchte jetzt auch zu VW", erzählt Mariola Ochtmann, als sie in der Qualitätskontrolle die Golfs durchcheckt, in der sauberen Arbeitskleidung des größten europäischen Autobauers, mit Werkzeugen, die den Rücken schonen, und geregelten Arbeitszeiten. "Schreibe gute Noten und bewirb dich", hat seine Mutter ihm geraten, wie Hunderte Karmänner ihren Kindern in den Jahrzehnten zuvor. Einige Familien arbeiten schon in der vierten Generation in dem Werk, das im Jahr 1901 mit dem Kutschenbau begann. Mit Volkswagen als Eigentümer lebt diese Tradition nun fort.