Heute dürfte die Europäische Zentralbank die Zügel in der Geldpolitik anziehen

Hamburg. Vor fünf Wochen sorgte Jean-Claude Trichet für eine handfeste Überraschung an den Finanzmärkten: In der Pressekonferenz nach der Zinssitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) wählte ihr Präsident eine Formulierung, die unter Experten als sicherer Vorbote einer Leitzinsanhebung bei nächster Gelegenheit gilt - und diese nächste Sitzung ist heute. Dabei hatten Volkswirte zuvor nicht damit gerechnet, dass die Zinszügel vor dem Jahresende angezogen werden. Schon seit Mai 2009 verharrt der sogenannte Hauptrefinanzierungssatz auf dem historischen Tief von 1,0 Prozent.

Viele EZB-Beobachter interpretierten Trichets unerwartete Ankündigung als Botschaft an die europäischen Regierungen: Die Notenbank will nicht länger als Euro-Retter missbraucht werden, sie will sich wieder auf ihre originäre Rolle als Bewahrer der Preisstabilität konzentrieren. Zweifellos wäre es der Politik aber lieber, die Leitzinsen blieben unverändert niedrig.

"Die EZB muss einen schwierigen Balanceakt bewältigen", sagt dazu Michael Bräuninger, Konjunkturchef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Denn auf der einen Seite nehmen die Befürchtungen zu, in Euro-Ländern mit kräftigem Wirtschaftswachstum - allen voran Deutschland - könnten die Inflationsraten stark anziehen. So gehen Analysten der Commerzbank davon aus, dass die Bundesbank in einer vergleichbaren Situation die Leitzinsen schon im Sommer 2010 angehoben hätte, um der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale vorzubeugen. Auf der anderen Seite aber belasten höhere Zinsen die ohnehin schwer gebeutelte Wirtschaft hoch verschuldeter Euro-Länder noch zusätzlich.

Eine Anhebung um 0,25 Prozentpunkte wäre nach Auffassung von Bräuninger jedoch vertretbar: "Ein solcher kleiner Schritt hätte vor allem Signalcharakter." Ähnlich sieht es Andreas Rees, Deutschland-Chefvolkswirt bei UniCredit: "Der größte Gewinner der Zinswende sind nicht einzelne Länder oder Sektoren, es ist der Euro als Ganzes." Denn die EZB sende damit ein klares Signal an die Politik, weiterhin unabhängig agieren zu wollen. "Dies ist eine gute Entscheidung für die Zukunft des Euro."

Die Verlierer einer Zinserhöhung seien die Immobilienmärkte in Portugal, Spanien und Irland, sagt Rees. Gerade in diesen Ländern habe ein großer Teil der Hypothekendarlehen nur eine Zinsbindung von höchstens einem Jahr. In Portugal betreffe dies 99 Prozent aller Baukredite, in Spanien rund 90 Prozent und in Irland immerhin noch 67 Prozent. Ein höherer Leitzins verteuere damit sehr schnell die Anschlusskredite für die Eigenheimbesitzer, wodurch ihre Kaufkraft sinkt.

Nicht nur wegen solcher Risiken spricht sich Rudolf Hickel, Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Universität Bremen, gegen eine Zinserhöhung aus. Ein derartiger Schritt, den Hickel allerdings keineswegs für ausgemacht hält, sei unnötig. "Hier geht es nicht um eine Inflation, die von einer überschäumenden Nachfrage bedingt würde, es werden keine Preissteigerungen auf breiter Front erwartet", so Hickel. "Was wir sehen, ist eine Verteuerung der Energie und der Nahrungsmittel. Daran würde eine Zinsanhebung überhaupt nichts ändern." Außerdem sei der europäische Bankensektor immer noch auf "billiges Geld" angewiesen.

Dagegen argumentiert Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding, die Banken seien inzwischen wieder in besserer Verfassung, daher könnten sie nun einen größeren Teil der von der EZB großzügig verteilten Liquidität an die Realwirtschaft abgeben. Schmieding erwartet, dass die Notenbank es nicht bei einem Zinsschritt belässt, sondern auch in den Folgequartalen die Zinsen um je 0,25 Prozentpunkte heraufsetzen wird. "Das würde ich mit Blick auf die südlichen Euro-Länder für problematisch halten", sagt Bräuninger.

Nach Berechnungen von Rees würde eine Leitzinserhöhung von insgesamt 0,75 Prozentpunkten das portugiesische Bruttoinlandsprodukt aufgrund der Hypothekenkreditverteuerung um ein halbes Prozent belasten, in Spanien betrage dieser Effekt rund 0,4 Prozent. In Deutschland falle die Belastung hingegen sehr gering aus.

Ohnehin richten sich deutsche Banken für ihre Baukredit-Konditionen nach den Marktzinsen - "und die haben die erwartete Leitzinserhöhung schon vorweggenommen", so Bräuninger. Trichet habe bereits mit seiner Ankündigung erreicht, dass die Zinsen leicht steigen, sagt auch Hickel: "Das war aus seiner Sicht nicht unklug."