Der Kienbaum-Chef Tiemo Kracht fordert Zuwanderung von Fachkräften und erwartet Gehaltssprünge bei begehrten Jungakademikern.

Hamburg. Auf den ersten Blick erscheint die aktuelle Feierlaune in den Unternehmen berechtigt. Die deutsche Wirtschaft bleibt dank des anhaltenden Exportbooms in Höchstform. Im Februar kletterte der Ifo-Geschäftsklimaindex überraschend zum neunten Mal in Folge auf den höchsten Stand seit Dezember 1969, berichtete gestern das gleichnamige Münchener Wirtschaftsforschungsinstitut.

Die größeren Industriebetriebe in Hamburg produzieren beinahe wieder auf dem hohen Vorkrisenniveau. Zugleich stellen die drastische Überalterung unserer Gesellschaft und eine stark schrumpfende Zahl von Hochschulabsolventen die Wirtschaft allerdings vor dramatische Herausforderungen. Tiemo Kracht, Geschäftsführer der Kienbaum Executive Consultants GmbH, und damit einer der bundesweit renommiertesten Personalberater, sieht die Industriestaaten angesichts der alternden Gesellschaft mit einer Entwicklung konfrontiert, die in der Geschichte einmalig ist. Das Abendblatt sprach mit dem 46-Jährigen über Zuwanderung und steigende Gehälter.

Hamburger Abendblatt: Die Wirtschaft rechnet mit dramatischen Folgen des Mangels an Mitarbeitern. Sind die Sorgen der Unternehmer berechtigt?

Tiemo Kracht: Ja, denn wir haben es bei der Überalterung in den Industrieländern mit einer Entwicklung zu tun, die in der Menschheitsgeschichte einmalig ist. In Deutschland dürfte die Bevölkerung in den nächsten 40 Jahren von 82 auf 69 Millionen sinken. Dazu kommt, dass 2020 mehr als 40 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt sein werden. Ab 2015 beginnen die Babyboomer in Rente zu gehen. Gleichzeitig bricht die Zahl der Hochschulabsolventen jedes Jahr zweistellig ein.

Was sind die Folgen für die Wirtschaft?

Kracht: Wenn die Unternehmen hier nicht in der Lage sind, ihr Personaltableau ausreichend zu füllen, werden sie gezwungen sein, Bereiche ins Ausland zu verlagern oder Fachpersonal in anderen Ländern zu finden.

Eine schrumpfende Wirtschaft bedeutet weniger Wachstum und Wohlstand. Wie können wir gegensteuern?

Kracht: Wir kommen um substanzielle Zuwanderung nicht umhin. Auch wenn der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank Jürgen Weise, argumentiert, wir könnten mit Bordmitteln arbeiten und Arbeitslose qualifizieren, bevor wir an die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland denken. Das funktioniert nicht. Wir haben ein strukturelles Defizit. Vier Millionen Arbeitskräfte fehlen uns dauerhaft.

Wie können wir gegensteuern?

Kracht: Ein gutes Beispiel ist Dänemark. Unsere Nachbarn haben eine eigene Agentur gegründet, die jedes Jahr 50 000 Fach- und Führungskräfte anwerben soll. Es gibt entsprechende Messen und einen Relocationservice, der Familien bei der Übersiedlung professionell unterstützt.

Welche entsprechenden Maßnahmen fordern Sie für Deutschland?

Kracht: Deutschland braucht einen Elitenzuzug. Zuwanderung für die Sozialsysteme und nicht in die Sozialsysteme. Wichtig ist daher, dass wir Qualifikationen definieren, die wir benötigen. Ingenieure für die Luft- und Raumfahrttechnik, Physiker, Computerfachleute, aber auch ärztliche Fachrichtungen.

Wie attraktiv ist Deutschland für gut ausgebildete Zuwanderer?

Kracht: In der Außenwahrnehmung gelten wir als Hochsteuer- und Hochabgabenland. Ein wichtiges Kriterium für die Fachkräfte sind auch die Bildungsbedingungen für ihre Kinder. Auch dabei machen wir ja mit PISA nicht die besten Schlagzeilen.

Diese Bedingungen zu ändern, wäre Aufgabe der Politik. Wie kann sich die Wirtschaft selber helfen?

Kracht: Bei den Unternehmen besteht der größte Handlungsbedarf im Mittelstand, der für 75 Prozent der Wirtschaftsleistung und drei Viertel des Personalbedarfs steht. Der Mittelstand muss sich eine internationale DNA zulegen. Insbesondere muss die Sprachkompetenz gefördert werden, das fängt schon im Personalmanagement an. Die deutschen Unternehmen müssen Englisch als zweite Sprache zulassen.

Wie gut ist Hamburg als attraktive Großstadt mit Fachkräften versorgt?

Kracht: Wir haben beste Voraussetzungen im Kampf um die Talente, sogar im internationalen Vergleich. Die Metropolregion bietet eine hohe Lebensqualität für Singles und Familien. Wir liegen bei Städterankings auf den vorderen Plätzen und werden auch international wahrgenommen. Auch aufgrund der Tradition im internationalen Handel gilt die Stadt als weltoffen, tolerant und wirtschaftlich leistungsstark.

Zu den positiven Auswirkungen des demografischen Wandels: Erleben Bewerber heute bei der Wahl ihres Arbeitgebers Zustände wie im Schlaraffenland?

Kracht: Hochschulabsolventen können entspannt in die Zukunft blicken. Besonders mit einem guten Examen und exotischen Sprachqualifikationen etwa in Chinesisch oder Russisch gelten sie für die Firmen als Mehrzweckwaffe.

Zeigt sich der Wettbewerb um die Talente in einer besseren Bezahlung?

Kracht: Ja. Die Vergütung von Trainees ist in den vergangenen Jahren um zehn bis 15 Prozent gestiegen. Je nach Branche bekommen Hochschulabsolventen zwischen 50 000 und 70 000 Euro. In mittleren Führungsebenen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der heutige Managerkapitalismus im Gegensatz zum früheren Eigentümerkapitalismus zu gefährlichen Risiken führen kann. Die Bonuszahlungen steigen nicht mehr, dafür gibt es höhere Fixgehälter. Ein Beispiel: Ein Regionalleiter des Firmenkundengeschäfts in einer Bank bekam früher 120 000 Euro Grundgehalt und dazu noch einmal die Hälfte dieser Summe als Bonus. Heute verdient er 140 000 Euro fix mit einem Bonus von 30 Prozent.

Wie ändern sich die Anforderungen an das Management?

Kracht: Das Management der Zukunft steht für interkulturelle Verwendbarkeit. Die Führungskraft muss eine kulturell heterogene Belegschaft an internationalen Standorten auf ein gemeinsames Ziel polen.

Was bedeutet dies für die Karriere?

Kracht: Die Karrieren bei uns waren bisher eher versäult. In den angelsächsischen Ländern gibt es schon länger den organisierten Sprung ins kalte Wasser zur Erlangung einer generellen Managementkompetenz. Ich wechsele von der Produktion in die Unternehmenssteuerung, dann in den Vertrieb. Denn am Ende zählt vor allem eines: Der Manager muss Arbeitslust und Wissen organisieren und für einen würdevollen Umgang miteinander sorgen. Wie es schon der frühere BP-Chef sagte: Letztendlich setzen wir auf Menschen und nicht auf Strategien.