Chef der Eisenbahngewerkschaft EVG, Alexander Kirchner, kritisiert Sparkurs

Hamburg. Die kräftigen Schneefälle im Dezember haben die Schwachstellen der Deutschen Bahn ans Tageslicht befördert. Im Durchschnitt erreichten nur 70 Prozent der Züge ihr Ziel, an einigen Tagen war es nur jeder dritte Zug. Über die Probleme in dem Staatskonzern, Versprechungen des Bundesverkehrsministers und erforderliche Änderungen sprach das Abendblatt mit dem Vorsitzenden der größten deutschen Eisenbahngewerkschaft EVG, Alexander Kirchner. Der 54-Jährige ist seit 20 Jahren hauptamtlich gewerkschaftlich tätig.

Hamburger Abendblatt: Das Winterchaos bei der Bahn hat viele Kunden verärgert. Wo liegen die Hauptursachen für die Verspätungen?

Alexander Kirchner: Es ist eine Mischung aus vielen Faktoren. Primär handelt es sich um Managementfehler und eine zu starke Gewinnorientierung. Wenn der Betrieb bei der Bahn rund laufen soll, darf beim heutigen Zustand der Schienen und Züge nichts dazwischenkommen. Das ist wiederum unmöglich, da die Bahn grundsätzlich mehrere Probleme hat: Aufgrund des jahrelangen massiven Sparkurses gibt es zu wenig Ersatzzüge, die im Notfall eingesetzt werden können. Schuld trägt aber auch die Politik. Bei Ausschreibungen im Nahverkehr setzen die Landesregierungen heute vorrangig auf günstige Preise statt auf Qualität. Das führt dazu, dass die günstigsten statt die besten Züge eingekauft werden. Hier brauchen wir ein Umdenken.

Welche Verantwortung tragen die Hersteller?

Kirchner: Die Züge werden seit gut 20 Jahren nicht mehr von der Bahn entwickelt, vielmehr wurde die Forschung und Entwicklung an die Industrie ausgelagert. Die Achsenprobleme sind zwar kein von der Bahn verursachtes Problem, werden ihr aber zugeschrieben und müssen von ihr verantwortet werden. Wenn sich etwas ändern soll, brauchen wir wieder Fahrzeuge mit besserer Qualität, mehr Zugreserven und vor allem mehr Personal.

Wie stark müsste die Personalzahl aufgestockt werden?

Kirchner: Wir fordern eine Verdoppelung der Einstellungszahlen von Azubis von 2800 auf 5600 pro Jahr. So können für die Bahn Fachkräfte gesichert und eine bessere Instandhaltung des Schienennetzes gewährleistet werden.

Die Bahn will 2011 deutlich mehr Geld für Züge und das Netz ausgeben. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hat 3,9 Milliarden Euro zugesagt. Reicht das?

Kirchner: Herr Ramsauer macht den Leuten etwas vor. Die 3,9 Milliarden Euro sind keine zusätzlichen Mittel, sondern das, was im Haushalt längst eingeplant war. Zur Lösung der Winterprobleme ist kein zusätzlicher Cent mehr genehmigt worden. Im Gegenteil: Die Deutsche Bahn ist seit Jahren unterfinanziert. Im Zuge der Bahnreform hatte eine Expertenkommission 1993 festgelegt, wie viel Geld die Bahn zum Erhalt der Infrastruktur braucht, und zwar rund fünf Milliarden Euro, seinerzeit war von zehn Milliarden Mark die Rede. Doch seither blieb der Etat in jedem Jahr um rund 1,5 Milliarden Euro unter dem ausgerechneten Betrag. Es handelt sich, wenn man das hochrechnet, also um etwa 25 Milliarden Euro, die der Bahn vorenthalten wurden. Der Vorsatz, mehr in Züge zu investieren, ist gut - die Frage ist jedoch, woher das Geld kommt. Sonst muss der DB-Konzern weitere Schulden aufnehmen.

Die Koalition will stattdessen jedes Jahr 500 Millionen Euro Gewinn von der Bahn erhalten.

Kirchner: Wir fordern, dass die Gewinne bei der Deutschen Bahn bleiben und dort investiert werden. Da die Bundesregierung 500 Millionen Euro für vier Jahre einfordert, handelt es sich sogar um zwei Milliarden Euro, die zu zahlen wären. Das ist nicht tragbar. Zudem liegt der Betrag deutlich über der Summe, die bei Aktiengesellschaften als Gewinnausschüttung laufen. Hier handelt es sich um einen politischen Preis, der inakzeptabel ist.

Verkehrsminister Ramsauer will die Bahn neu aufstellen und das Bahnnetz von dem Zugbetrieb trennen. In der Vorbereitung des Börsengangs wurde diese Konstruktion von den Gewerkschaften abgelehnt. Wie bewerten Sie den Schritt heute?

Kirchner: Eine Trennung von Netz und Betrieb wird unter anderem zu einer Erhöhung der Fahrpreise bei allen Eisenbahnen führen.

Wie das?

Kirchner: Der Infrastrukturbereich - also die Netz AG - ist mit rund zehn Milliarden Euro der am höchsten verschuldete Bereich der Bahn. Sie kann ihre Kosten nicht selbst erwirtschaften. Seit Jahren steckt die Bahn rund zwei Milliarden Euro Gewinne aus dem Personen- und Güterverkehr in die Infrastruktur. Wenn diese Zuschüsse wegfallen, müssen die Trassenpreise, also die Nutzungsgebühren, die für jeden Zug gezahlt werden, erhöht werden. Damit werden Tickets nicht nur bei der Deutschen Bahn, sondern auch bei den Privatbahnen teurer.

Teure Tickets werden viele Reisende zum Umsteigen auf das Auto bewegen ...

Kirchner: So schafft die Regierung jedenfalls keine ökologische Wende, die dringend erforderlich wäre. Bis 2025 wird der Güterverkehr um 60 Prozent steigen. Für uns als Transitland ist es die große Frage, ob diese Verkehre künftig auf der umweltfreundlicheren Schiene oder auf der Straße fahren.

Welche Konsequenzen hätte die Umstrukturierung für die Beschäftigten?

Kirchner: Die Spaltung würde den bahninternen Arbeitsmarkt sprengen. Im Netzbereich finden heute viele Kollegen einen neuen Job, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im Schichtdienst arbeiten können, aber auch Lokführer, die einen Menschen überfahren haben und psychisch nicht mehr ihren Job ausüben können.

Ist der Börsengang für die Bahn noch wichtig?

Kirchner: Es gibt weder Investoren noch ist die Bahn in der Lage, von ihren Kennzahlen her an die Börse zu gehen. Ein Börsengang wäre erst recht schädlich, wenn die Bahn dafür zerschlagen wird. Aus unserer Sicht brauchen wir keinen Börsengang.

Sollten die Bahn ihre internationalen Zukäufe fortsetzen?

Kirchner: Der Inlandsverkehr wird immer Vorrang haben. Durch die Liberalisierung werden wir aber erleben, dass in wenigen Jahren eine Handvoll Unternehmen den Eisenbahnmarkt in Europa dominieren. Wenn wir den europäischen Nachbarn das Feld überlassen, wird das Überleben der DB schwer. Allerdings plädieren wir eher für eine stärkere Kooperation unter den Eisenbahnunternehmen statt eine Konfrontation. Deutschland sollte als Anbieter mitmischen, sonst sieht es auch schlecht für die Arbeitsplätze aus.

Apropos Arbeitsplätze - seit langer Zeit ein Thema bei der Bahn. Ist in diesem Jahr ein Stellenabbau im Konzern zu befürchten?

Kirchner: Durch die technischen Veränderungen - wie neue elektronische Stellwerke - wird es immer wieder punktuell zu Arbeitsplatzverlusten kommen. Aber die Zeiten des großen Abbaus sind vorbei. Seit 1990 wurde die Zahl der Beschäftigten bei den Eisenbahnen um 300 000 auf 200 000 reduziert. Es gibt überhaupt keine Spielräume für Personalkürzungen, das Gegenteil müsste sogar der Fall sein, wie beispielsweise der Winter zeigt.