Das für 2011 erwartete Wirtschaftswachstum basiert zu einem Großteil auf statistischen Effekten

Hamburg. Im vorigen Jahr hat die deutsche Wirtschaft um rund 3,7 Prozent zugelegt, für dieses Jahr erwarten die Volkswirte ein weiteres Plus von 2,2 bis 2,5 Prozent. Und noch nie gab es so viele Arbeitsplätze in der Bundesrepublik. Angesichts solcher Zahlen drängt sich manchem schon der Begriff "Wirtschaftswunder" auf.

Doch bei genauerem Hinsehen bietet sich ein weit weniger eindrucksvolles Bild, der Zauber verfliegt. Das beginnt beim Bruttoinlandsprodukt (BIP), dessen Anstieg in diesem Jahr durch das zugrunde liegende Rechenverfahren überschätzt wird. "Allein 1,5 Prozentpunkte des für 2011 erwarteten Wachstums sind auf den statistischen Überhang zurückzuführen", sagt Michael Bräuninger, Konjunkturchef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI).

Dieser Effekt kommt dadurch zustande, dass die Wirtschaftsleistung 2010 gegen Jahresende viel höher lag als zu Jahresbeginn, das BIP des Jahres 2011 aber mit dem Jahresdurchschnitt 2010 verglichen wird. Die Folge: Selbst wenn die Wirtschaftsleistung nun auf dem Niveau des vierten Quartals 2010 konstant bliebe, würde für 2011 eine deutliche BIP-Zunahme ausgewiesen.

Der Exportboom wird in diesem Jahr deutlich abflauen

"Das Wachstum im Jahresverlauf 2011 dürfte relativ mäßig sein", erwartet denn auch Ferdinand Fichtner, Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Genauso sieht es Joachim Scheide, Leiter des Prognosezentrums beim Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel: "Den größten Teil des Einbruchs während der Wirtschaftskrise haben wir schon 2010 wettgemacht. Das geht nicht so weiter." Tatsächlich werde sich die Konjunktur in diesem Jahr im Vergleich zu 2010 "deutlich abschwächen". Daher hält es Scheide nicht für angemessen, von einem neuen Wirtschaftswunder zu sprechen.

Geradezu erstaunlich ist jedoch die Ablösung der bisherigen Konjunkturlokomotive - seit vielen Jahren war dies der Export - durch einen neuen, für Deutschland ungewohnten Treiber. "Das Wachstum kommt in diesem Jahr allein aus der Binnennachfrage", sagt Scheide. Zwar nehmen die Ausfuhren voraussichtlich auch in diesem Jahr weiter zu, aber deutlich schwächer als in den vergangenen zwölf Monaten. "China macht sich daran, den Boom mittels Zinserhöhungen etwas abzubremsen", erklärt Scheide. "Das dämpft die deutschen Exporte."

Dafür dürften die Investitionen im Inland kräftig zulegen. "Für Deutschland sind die aktuellen Zinsen der Europäischen Zentralbank zu niedrig", erklärt Scheide. Dadurch werde unter anderem der Wohnungsbau angeschoben. "Aber auf etwas längere Sicht bleibt die Niedrigzinspolitik nicht ohne negative Folgen", erwartet der Kieler Wissenschaftler: "Sie führt dazu, dass auch Projekte realisiert werden, die sich eigentlich nicht rechnen."

Doch nicht zuletzt der private Konsum deutscher Verbraucher könnte zum Motor des europäischen Wachstums werden, glaubt Holger Schmieding, Chefvolkswirt des Hamburger Bankhauses Berenberg - wobei das von ihm für die nächsten beiden Jahre auf rund zwei Prozent veranschlagte Plus der Konsumausgaben nach deutschen Maßstäben schon einem ausgewachsenen Boom gleichkomme.

Der Wechsel vom exportgetriebenen hin zu einem binnenkonjunkturgetriebenen Wachstum ist auch nach Auffassung von Bräuninger "eine der markantesten Veränderungen in diesem Aufschwung". Er führt mehrere Gründe an, warum das Geld nun lockerer sitzt: "Die Unternehmen haben durch Einmal- und Sonderzahlungen die Einkommen der Mitarbeiter angehoben, außerdem wird es höhere Tarifabschlüsse geben als bislang." Vor allem aber geht die Arbeitslosigkeit, die im Jahresschnitt 2010 bei 3,24 Millionen und damit um 179 000 Personen niedriger als im Vorjahr lag, nach den Prognosen aller Institute weiter zurück (siehe Tabelle).

"Für die allgemeine Euphorie besteht aber kein Anlass", sagt Fichtner. "Der Arbeitsmarkt steht nicht so gut da, wie es auf den ersten Blick aussieht." So habe man durch Änderungen der Zuordnung seit dem Frühjahr 2009 rund 200 000 Menschen aus der offiziellen Statistik herausgerechnet: "Damit ist die tatsächliche Arbeitslosigkeit jetzt noch immer höher als vor der Krise."

Zudem sei der jüngste Beschäftigungsaufbau zu einem großen Teil auf eine Zunahme der Teilzeitstellen zurückzuführen, während die Vollzeitbeschäftigung zuletzt nur "mit gebremstem Tempo" angestiegen sei, sagt Fichtner. Aufgrund schwächerer Produktionszuwächse sei auch in diesem und im nächsten Jahr nur mit einem "zögerlichen Aufbau von Vollzeitstellen" zu rechnen, sagt DIW-Experte Fichtner.

Doch es gibt noch einen weiteren Faktor, der die scheinbar glänzenden Konjunkturdaten relativiert: Die erheblichen Risiken, deren Wahrscheinlichkeit nicht prognostizierbar ist und die daher nicht in den Vorhersagen berücksichtigt sind.. "Die Schuldenkrise ist ganz bestimmt noch nicht vorbei", warnt Scheide. "Wir müssen uns auf eine neue Welle von Problemen am Anleihemarkt einstellen", glaubt auch Schmieding. Zwar sei es bisher gelungen, ein Übergreifen der Krise auf die Euro-Kernländer zu verhindern.

Die Schuldenkrise in Europa und den USA bringt erhebliche Risiken

Aber das könnte sich ändern. So besteht nach Einschätzung des IfW in Kiel nach wie vor das Risiko, dass trotz der Rettungspakete ein europäischer Staat den Schuldendienst einstellt. "Ein Staatsbankrott könnte zu einer neuen Finanzkrise führen - mit verheerenden Auswirkungen auf die Konjunktur", sagt Bräuninger.

Dabei sei dies nicht einmal das einzige Risiko: Eine Vertrauenskrise in den mindestens ebenso hoch wie Europa verschuldeten USA könnte dort zu einem Rückfall in die Rezession führen, auch ein unerwartet drastischer Anstieg des Ölpreises ist nicht auszuschließen. Und sollte der Währungsabwertungswettlauf zwischen China und den USA wieder aufgenommen werden, stiege der Euro kräftig an, was schlecht für die Exporte wäre.

Die Lage zu Beginn des Jahres 2011 ist also unübersichtlich. Aber genau das lässt, wie Schmieding zu bedenken gibt, zumindest auch die Möglichkeit offen, dass die deutsche Konjunktur am Ende abermals positiv überrascht.