Kieler Ökonom erwartet 2010 elf Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen. Staatsdefizit steigt auf 3,5 Prozent

Hamburg. Die deutsche Wirtschaft kämpft sich mit Riesenschritten aus dem Konjunkturtal. Nach den starken Einbrüchen im Vorjahr geht es in rasantem Tempo wieder bergauf. Getragen von kräftigen Exportzuwächsen, steigenden Investitionen und höheren Konsumausgaben erzielte Deutschland im zweiten Quartal mit 2,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal das höchste Wachstum seit der Wiedervereinigung. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum betrug der Zuwachs sogar 4,1 Prozent.

Zwar trägt die Bundesrepublik weiter einen gigantischen Schuldenberg von 1,7 Billionen Euro vor sich her, doch die Neuverschuldung stieg im ersten Halbjahr mit 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) weniger stark als befürchtet - überschritt damit aber dennoch die festgelegte Obergrenze des Maastricht Vertrags von drei Prozent.

Die Hauptursache der höheren Neuverschuldung liegt vor allem in den milliardenschweren Konjunkturprogrammen der Bundesregierung, die den Staatshaushalt maßgeblich belasten. Auf der anderen Seite profitierte von den Geldern die Bauwirtschaft, die ihren Abwärtstrend endlich stoppen und im zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal um 5,2 Prozent zulegen konnte. Insgesamt kletterte die Neuverschuldung im ersten Halbjahr auf rund 42,8 Milliarden Euro - und liegt damit gut doppelt so hoch wie im Vorjahreshalbjahr mit 18,7 Milliarden Euro, berichtet das Statistische Bundesamt. Doch die Chancen stehen gut, dass Deutschland angesichts der für 2011 geplanten Sparpakete sowie durch höhere Steuereinnahmen spätestens 2012 wieder sein Defizit unter drei Prozent drücken kann, sagt Alfred Boss, Konjunkturexperte im Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), dem Abendblatt.

Nach Berechnungen von Boss, der zugleich Mitglied des Arbeitskreises Steuerschätzung ist, werden die Steuereinnahmen in Deutschland in diesem und kommendem Jahr deutlich höher ausfallen als bisher erwartet. "Die jüngste Steuerschätzung muss kräftig nach oben revidiert werden. Der Aufschwung dürfte 2010 und 2011 jeweils etwa zehn bis elf Milliarden Euro mehr Steuern in die Kasse spülen", so Boss. 2011 seien sogar Mehreinnahmen von 15 Milliarden Euro zu erwarten. Für 2010 steigen die Steuereinnahmen damit geschätzt auf 521,3 Milliarden Euro und 2011 auf 530 Milliarden Euro.

Aufgrund des überraschend starken Aufschwungs im ersten Halbjahr wollen viele Wirtschaftsinstitute sowie die Bundesbank ihre Prognosen auf gut drei Prozent und mehr anheben (siehe Grafik). Der Steuerschätzerkreis hatte für seine bisherige Prognose vom Mai nur ein Wachstum von 1,4 Prozent für 2010 und 1,6 Prozent für 2011 zugrunde gelegt, erläuterte Boss. Nunmehr seien durch den Aufschwung deutlich mehr Einnahmen bei der Lohn-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer zu erwarten.

"Die Erholung hat die deutsche Wirtschaft in ihrer vollen Breite erfasst", sagt Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle. Ökonomen gehen jedoch davon aus, dass sich die Zuwächse im zweiten Halbjahr abschwächen dürften. "Auf dem Niveau des zweiten Quartals wird es nicht weitergehen", sagt der Konjunkturchef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), Michael Bräuninger. Gefahren drohten insbesondere aus den USA. "Dort ist ein Rückfall in eine neue Rezession nicht ausgeschlossen." Deutschland ist wiederum als Exportnation maßgeblich von den Bestellungen aus dem Ausland abhängig - insbesondere aus den europäischen Nachbarländern. Positiv wirke sich wiederum aus, dass die Nachfrage aus den Schwellenländern in Asien deutlich anziehe, so der Konjunkturchef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Grömling. Der IW-Experte ist jedoch ebenfalls überzeugt, "dass sich der Aufschwung nicht in dem aktuellen Tempo fortsetzt. Es droht aber auch kein Rückfall."

Deutschland präsentiert sich aktuell als Lokomotive des europäischen Wachstums. Den Grund dafür sehen Volkswirte vor allem in der starken Industrie und der Exportorientierung. Im Vergleich zum Vorjahr zogen die Exporte im zweiten Quartal um sagenhafte 19,1 Prozent an, die Importe kletterten um 17,8 Prozent. Die Investitionen in die Ausrüstungen der Unternehmen stiegen um 9,5 Prozent. Aber auch die Kurzarbeiterregelungen verhinderten in der Wirtschaftskrise schlimme Einbrüche am Arbeitsmarkt. So erbrachten nach Angaben des Statistischen Bundesamts im zweiten Quartal rund 40,3 Millionen Erwerbstätige die Wirtschaftsleistung - das sind 72 000 Personen mehr als noch ein Jahr zuvor.