Die Gärtnerei “Essbare Landschaften“ aus Boltenhagen beliefert Spitzenrestaurants in Hamburg

Boltenhagen. Vor dem alten Gutshaus schneit es, bei 28 Grad im Schatten. Eine leichte Sommerbrise weht Jasminblüten auf den Rasen. Die weißen Kelche duften nach Honig und sind essbar. Es ist ruhig hier, bis auf das ferne Knattern, das der Wind heranträgt. Ein Trecker mäht die Obstwiese und umkurvt knorrige Bäume, die alte Apfelsorten wie Dülmener Herbstrose oder Champagnerrenette tragen. Im Wald, der das Gutshaus umgibt wie ein Hufeisen, erntet Olaf Schnelle im Frühjahr seinen Bärlauch oder Waldmeister.

Die urwüchsige Idylle, die das fünf Hektar große Grundstück mit seinen Feldern, Wiesen und Hecken ausstrahlt, ist in Wirklichkeit ein geplantes, auf Wirtschaftlichkeit getrimmtes Stück Natur. Olaf Schnelle, 45, ist Geschäftsführer der Essbare Landschaften GmbH und baut rund um sein Gutshaus seltene Kräuter und Blumen an, die spätestens einen Tag nach der Ernte auf den Tellern der deutschen Sternerestaurants oder bei Privatkunden seines Internetshops landen. Die Jasminblüten bestellen die rund 200 Stammkunden dabei als essbare Dekoration, die Äpfel verkauft Schnelle als Gelee, den Bärlauch verarbeitet der Betrieb zu Pesto. Der Renner ist der Wildkräutersalat, das Kilo für 90 Euro. Gewürztageten, säuerliche Eisbegonien, "die klassische Friedhofsblüte, ziemlich hässlich", lacht Schnelle, oder das lauchig-senfige Ackerhellerkraut dienen als Aromageber. Oder bald, wie es Olaf Schnelles Kompagnon Ralf Hiener plant, als Zutaten für essbare Blumensträuße.

"Es gibt einen Trend zur Regionalisierung, zu einheimischen Gewächsen, die zum Teil lange in Vergessenheit geraten waren und jetzt wieder die kreative Küche erobern", sagt Schnelle. Vor zweihundert Jahren hätten Giersch und andere "Unkräuter" noch auf keinem Markt gefehlt. Dann seien sie aber von Karotten oder Porree verdrängt worden, von Gemüse, das als feiner galt.

Heute würden bekannte deutsche Gerichte zudem immer häufiger durch kulinarische Themen abgelöst. Gab es früher Roulade mit Rotkohl, steht heute ein "Spaziergang durch den Herbstwald" auf der Speisenkarte der jungen Wilden unter den Köchen. Ein Gericht mit erdigen Aromen, gekrönt von einem Fruchtnebel, denkt Schnell laut über die Verwendung seiner Gartenprodukte nach, wobei hier nicht unbedingt Molekularküche mit im Spiel sein muss.

Auch Schnelle ist ein großer Anhänger der naturnahen Zutaten, wanderte er doch schon als 17-Jähriger von seiner Heimatstadt Erfurt an die Ostsee und ernährte sich dabei wochenlang von wild wachsenden Kräutern, Knospen und Sämlingen. "Es ist erstaunlich, was man alles essen kann", sagt der jungenhaft aussehende Pflanzenkenner. Neueste Artikel in seinem Sortiment sind etwa Keimlinge von Bäumen. Als besondere Schönheit gelten junge Ahornbäumchen als Highlight im Salat.

In Hamburg gehören Thomas Martin vom Louis C. Jacob, Christian Rach (Tafelhaus, Rach & Ritchy) oder Cornelia Poletto zu den Kunden der Essbare Landschaften GmbH. Sogar Drei-Sterne-Köche wie Joachim Wissler vom Restaurant Vendome bestellen dort.

Der Betrieb gehört seit seiner Gründung vor zehn Jahren zu den Vorzeigeprojekten des Ostens, er wurde mehrmals Unternehmen des Jahres und ausgezeichneter Ort im "Land der Ideen". Schließlich liegt die Gärtnerei in Nordvorpommern nahe Demmin, der ärmsten Gemeinde der Bundesrepublik, einem einsamen Landstrich mit wenigen Attraktionen, wo vor einigen Jahren die lang ersehnte Eröffnung des ersten McDonald's für schon fast eine Völkerwanderung zu der amerikanischen Fastfood-Kette sorgte. Wo noch seltene Tiere wie der Seeadler, der Biber oder der Eisvogel leben, haben sich Schnelle, der Gartenbauingenieur aus Erfurt, und Ralf Hiener, Küchenchef aus dem Schwarzwald, mit einigem unternehmerischem Mut auf Luxuszutaten für die gastronomische Elite Deutschlands spezialisiert.

Es war und ist ihr Erfolgsrezept, die Kompetenzen eines Gärtners und eines Kochs zu vereinen. Sie setzen rund 300 000 Euro mit den Pflanzen um, ein Plus von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr, beschäftigen gut eine Handvoll Saisonkräfte und wollen ihr Geschäft jetzt auch noch ausbauen. Unter dem Markendach "Feines vom Gärtner und vom Koch" wollen die beiden Individualisten das Sortiment um mehr Konserven, um Saatgut, Topfpflanzen und Gartenaccessoires erweitern. "Immer mehr Gärtnereien spezialisieren sich auf Wildkräuter und drängen in unser Geschäft", sagt Schnelle. Ein neuerer Anbieter, der in Hamburg auf Kundenfang geht, ist beispielsweise Esculenta aus Rotenburg-Wümme.

Mit Dutzenden neuen Produkten, die die Gartenfreaks von diesem Sommer an über eine neue Internetseite vertreiben wollen, soll die Abhängigkeit von dem stark umkämpften Frischebereich abnehmen. In Planung ist auch ein weiteres Buch, in dem die beiden Experten ihr Wissen weitergeben wollen, das sie in den Gesprächen mit den Spitzenköchen ständig mehren. "Es ist unglaublich bereichernd, wenn wir bei Kunden wie Herrn Wissler in Bergisch Gladbach zu Gast sind. Er ist immerhin einer der besten Köche weltweit, und wir erleben mit, was er aus unseren Produkten macht", sagt Schnelle. Beim gemeinsamen Philosophieren und Probieren kreierten sie immer neue Gartenideen. Zuletzt hätten sie mit Rosenholz experimentiert. "Wir haben Rosengehölz gehäckselt und gemerkt, wie das duftet. Anders als Rosen, aber auch klasse", schildert Schnelle begeistert den Weg zu einer neuen Geschmacksrichtung. Joachim Wissler habe bereits ein Tütchen bestellt und versuche jetzt in der Küche, das Aroma für seine Menükreationen zu nutzen.

Die beiden Kräuterkreativen sind derweil in und mit der Natur beschäftigt. Selbst vor der eigenen Gartentür macht Schnelles Begeisterung nicht halt, er steht regelmäßig mit der Schaufel über seinen Beeten: "Ich habe zu Hause auch eine essbare Landschaft", sagt der Vater von drei Kindern. Sein Garten, eine ehemalige Kuhweide, sieht inzwischen aus wie ein Ziergarten. Aber 80 Prozent davon sind essbar.