Immer mehr Azubis haben trotz eines Schulabschlusses massive Bildungsdefizite. Unternehmen und Innungen nehmen die Nachhilfe selbst in die Hand

Hamburg. Tobias Spohrmann steht an der Tafel im Klassenzimmer der Kfz-Innung und müht sich mit einer Zeichnung aus dem Innenleben eines Autos. Sieben Jungen, in Kapuzenshirt, Jeans und Turnschuhen, und ein Mädchen schauen zu. Manche sind gelangweilt, räkeln sich oder nuckeln an Cola-Flaschen, andere sind konzentriert. Sie alle machen bei Hamburger Auto-Händlern ihre Ausbildung. Und sind auf diese zusätzliche Hilfe in den Abendstunden angewiesen. Die Innung und die Kfz-Betriebe haben für die jungen Leute eigens einen Berufsschullehrer angestellt. Auch wenn es eigentlich nicht die Aufgabe der Wirtschaft ist, den Jugendlichen die Schule zu ersetzen: Ohne diese Nachhilfe stünden ihre Chancen schlecht, die Prüfung zu bestehen. Ohne Prüfung kein Abschluss, ohne Abschluss auch kein Job.

Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) organisieren mehr als die Hälfte der Unternehmen heute selber eine Nachhilfe für ihre Lehrlinge, in Hamburg unterstützen so auch Airbus und Aurubis ihre Auszubildenden. Ein Drittel aller Firmen in Deutschland nutzt zwar auch die ausbildungsbegleitenden Hilfen der Arbeitsagenturen, "aber da kann es vorkommen, dass ein Mechatroniker die gleiche Nachhilfe bekommt wie eine Friseurin", bemängelt Bernd Seeger, Leiter Berufsbildung und Technik vom Hamburger Kfz-Gewerbe, die wenig individualisierte Art der Förderung für schwächere Schüler, von denen es immer mehr in die Betriebe spült.

Oft ersetzen die Berufsschullehrer des Kfz-Gewerbes dabei nicht nur die Schule, sondern auch noch das Elternhaus. "Was wollen Sie eigentlich, ich bin Hartz IV und verdiene mehr als Sie", hat sich Thomas Umrath, Nachhilfelehrer bei der Kfz-Innung schon von Vätern auf Elternabenden anhören müssen.

Viele Jugendliche haben schon mit dem Dreisatz ihre Probleme

Nach dem Unterricht sitzt der 38-Jährige vor dem Klassenzimmer, raucht in tiefen Zügen und wirkt erschöpft. Drinnen packen seine Schüler ihre Sachen zusammen. Feierabend für heute. "Gibt's nächstes Mal Pizza?" fragt einer beim Weggehen. "Dann kommt aber pünktlich", kontert Umrath kopfschüttelnd und schildert seine Erfahrungen mit der Jugend von heute, die von den Unternehmen immer häufiger als kaum ausbildungsfähig abgestempelt wird. "Etliche gehen mit völlig falschen Vorstellungen in die Ausbildung", sagt Umrath. Sie wollten von der Straße kommen, hörten von Bekannten, sie könnten ordentlich Geld verdienen und seien dann erschrocken über die Anforderungen des Berufs. Viele hätten schon mit dem Dreisatz ihre Probleme.

"Der Spaß hört oft in der Schule auf, gerade mit der Elektronik haben die meisten zu kämpfen", weiß Umrath. So wie Tobias, der junge Mann an der Tafel. Wenn er nicht gerade die Theorie büffelt, hilft er den Gesellen beim Autohaus Hugo Pfohe. Lässt sich erklären, wie er die Einspritzpumpe repariert, wie er das Problem mit dem hakenden Gaspedal lösen kann. "Kfz-Mechatroniker ist mein Traumberuf", sagt der stille junge Mann, der sich bald seine erste eigene Wohnung in Dulsberg leisten will. Doch der Weg dahin ist schwer. Um beim Stoff am Ball zu bleiben, muss er sich abends nach dem Acht-Stunden-Tag in der Werkstatt noch über seine Bücher setzen. "Schaltpläne lesen, zu erkennen, wo ein Teil den Strom herbekommt, das ist anspruchsvoll", sagt der 20-jährige Hamburger. Da hilft es ihm wenig, dass er schon als Kind mit seinem Vater an Oldtimern schraubte. Die alten Schätzchen haben mit den modernen Autos von heute so wenig gemeinsam wie die Lochkarte mit einem Speicherchip. Auch die Zwei in Mathe vom Abschlusszeugnis in der Realschule bringt ihn nicht weiter. Denn jetzt, wenige Monate nach Beginn seiner Lehre, ist er in Elektronik schon auf Vier gerutscht. Deshalb die Nachhilfe. "Da würde die Berufsschule nicht reichen", sagt er. Immerhin jeder Vierte fällt in der Abschlussprüfung durch. Das will Tobias, Sohn eines Hausmeisters und einer Fußpflegerin, verhindern. "Mir macht der Beruf so viel Spaß, dafür kämpfe ich mich jetzt durch die Theorie."

Dabei ist der stämmige junge Mann noch einer der besseren in der Klasse. Der Vorzeigeschüler, der mit dem Abendblatt sprechen darf. Der seinen komplett gefüllten Buntstiftkasten an seinem Platz liegen hat, während die anderen sich um einen Kuli balgen.

Auch Bernd Seeger beobachtet verhaltensauffällige Schüler, aber auch rücksichtslose und rüpelhafte Eltern. "Wir spüren die Verwahrlosung der Gesellschaft", sagt der studierte Pädagoge. "Viele Jugendliche sind noch sehr kindisch, wollen absolut nicht erwachsen werden und reagieren auf ernsthafte Gespräche nur mit albernen Sprüchen", sagt Umrath, der Hausaufgaben praktisch nicht mehr aufgibt: "Die hat mein Hund gefressen, meine Schwester versemmelt", sagen die Schüler. An Ausreden mangele es ihnen nicht.

Ein Vater: "Sie können meinen Sohn ruhig schlagen"

Manche der Auszubildenden drifteten auch ab, ließen sich nicht mehr in die Betriebe integrieren. Oft sind sie Opfer von Alkoholproblemen in der Familie, überforderter Alleinerziehender, sie spüren die Vereinsamung in der anonymen Großstadt. Umrath: "Wenn mir ein Vater beim Elternabend zuruft, ich könnte seinen Sohn ruhig schlagen, dann wird mir einiges klar".

Nicht nur mittelständische Unternehmen wie die Autohäuser in der Hansestadt schulen Lehrlinge nach. Auch ein Großkonzern wie Siemens bildet neuerdings jährlich für 30 Millionen Euro 250 lernschwache Jugendliche aus, 25 davon im Norden. Hauptschüler, junge Leute, die länger arbeitslos waren, Kinder von Migranten mit schlechterem Deutsch. Sie bekommen ähnlich wie bei der Kfz-Innung Hilfe in Mathematik oder Sprachen. Zwar ist der Elektrokonzern mit bundesweit 40 000 Bewerbungen noch recht verwöhnt. Wegen der demographischen Entwicklung werden die Unternehmen aber nicht mehr lange aus dem Vollen schöpfen können. Zwischen 2005 und 2020 erwartet die Wirtschaft einen Rückgang bei den Schulabgängern von einem Viertel. Auch die Bundesregierung warnt, die Wirtschaft werde schon bald "jeden jungen Menschen brauchen".

"Selbst wir als internationales Unternehmen sind unter den beliebtesten Arbeitgebern für Schüler ein paar Plätze nach unten gerutscht, vor ein paar Jahren hatten wir noch 50 000 Bewerber", begründet Ronald Bruhn, Ausbildungsleiter bei Siemens Nord in Hamburg, die Bemühungen um junge Frauen und Männer.

Eine von ihnen ist Nathalie Brähmer, die im Schulungsraum des Industriekonzerns in der City Süd am Computer sitzt. Noch vor ein paar Monaten schien ihre Zukunft vorbestimmt zu sein. Die Mutter der achtjährigen Sophie ging kellnern, bekam trotz etlicher Bewerbungen keinen Ausbildungsplatz. "Wenn Ihr Kind krank ist, fehlen Sie doch auch", musste sich die dunkelhaarige Frau aus Stade von mehreren Unternehmen anhören, bei denen sie sich vergeblich um einen Bürojob beworben hatte. "Eigentlich wären wir irgendwann ein Fall für Hartz IV geworden", sagt die 26-Jährige. Die Nachricht von der Chance bei Siemens bekam sie von der Agentur für Arbeit. Sie war nach der Hauptschule dort arbeitslos gemeldet. "Jetzt komme ich ganz gut mit, nur Englisch ist noch schwierig", schöpft Nathalie Brähmer wieder Hoffnung, dass sie die Ausbildung zur Industriekauffrau auch wirklich schafft.

Das Programm für benachteiligte Jugendliche bei Siemens läuft jetzt seit zwei Jahren. "Wir waren anfangs skeptisch", sagt Ronald Bruhn. Wichtig war es den Personalexperten, dass die Jugendlichen, die nur über das Benachteiligtenprogramm in die Ausbildung gerutscht waren, keine sichtbare Sonderbehandlung bekommen. "Die Ausbilder in den Abteilungen wissen nichts über den Sonderstatus". Bisher hätten praktisch alle Nachrücker die Ausbildung problemlos geschafft, während in der übrigen Wirtschaft jeder Fünfte die Lehre vorzeitig beendet.

40 Prozent der Absolventen sind nicht reif für eine Ausbildung

"Wir hätten nicht gedacht, dass wir so wenig Zugeständnisse machen müssen", sagt Bruhn. Offenbar ist die Nachhilfe direkt im Unternehmen effektiver als eine staatliche Unterstützung schwächerer Jugendlicher. Arbeitgeberverbände gehen davon aus, dass etwa 40 Prozent aller Hauptschulabsolventen ohne Vorbereitung nicht reif für eine Ausbildung sind. Fast die Hälfte eines jeden Jahrgangs, der die Schulen verlässt, landet in einer von diversen "Maßnahmen", eine Übergangslösung anstatt einer Ausbildung. Sie gelten dann als nicht arbeitslos, das schönt die Statistik. Das Übergangssystem kostet jedes Jahr vier bis fünf Milliarden Euro, und nicht wenige Jugendliche hängen eine Warteschleife an die nächste.

Doch Tobias Spohrmann und Nathalie Brähmer haben ihren Weg gefunden. Die junge Mutter glücklich: "Bald kann ich meiner Tochter selber ihre Wünsche erfüllen, kann alleine für alles sorgen. Das ist ein schönes Gefühl."