HWWI-Chef stuft die Ökonomik als Sozialwissenschaft ein - und spricht ihr jede naturwissenschaftliche Genauigkeit ab. Ein Plädoyer für komplexeres Denken

HWWI-Chef Thomas Straubhaar hat eine Debatte über die Wirtschaftswissenschaften eröffnet. Im Abendblatt fordert er mehr Interdisziplinarität:

1. Komplexe Probleme kennen keine einfachen Antworten

Globalisierung und Strukturwandel haben die Wirtschaft radikal verändert. Was früher mehr oder weniger abgeschlossene Wirtschaftsräume waren, sind heute offene, weltweit eng verflochtene Märkte mit global agierenden Spielern geworden. Nationaler Politik kommt nur noch eine nachrangige Rolle zu. Aus der Nationalökonomie ist eine Weltökonomie geworden. Entsprechend steigt die Komplexität auf allen Ebenen - politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Insbesondere das hohe Tempo der Finanzmärkte - wie bei Devisentransaktionen - läuft mit dem Tempo der Abläufe in der realen Wirtschaft nicht (mehr) synchron. Das schadet der realen Wirtschaft, die sich niemals so schnell anpassen kann. In der Politik dagegen bremsen (Wut-)Bürger die Geschwindigkeit der Anpassung, und Gesellschaften benötigen Generationen, um Mentalitäten zu verändern. In dieser komplexen Gemengelage gibt es weniger denn je einfache Patentrezepte auf neue Herausforderungen.

2. Der Zufall spielt eine wichtige Rolle

Niemals zuvor sind in der Geschichte so viele neue Erkenntnisse in so kurzer Zeit bekannt geworden wie heute. Niemals zuvor gab es für die schwierigsten menschlichen Fragen so viele naturwissenschaftlich gut belegte Antworten. Die fernen Welten sind entdeckt, der DNA-Code ist geknackt, über Leben und Sterben ist alles bekannt. Eine scheinbare Allmacht der Erkenntnis verführt die Menschen zum Glauben, auf alles Antworten zu haben - und vor allem -, dass alltägliches Verhalten von einfachen Gesetzmäßigkeiten bestimmt würde, die sich voraussagen ließen. Die Illusion besteht darin, zufälligen Ereignissen ein erklärbares Muster und damit eine allgemeingültige Bedeutung beizumessen.

3. Verhalten schwer zu prognostizieren

Wie reagieren einzelne Menschen auf das Wechselspiel von mikroskopischem Zufall und makroskopischer Notwendigkeit? Kämpfen sie und versuchen, die neue Situation zu korrigieren, oder flüchten sie und passen ihre Wünsche der neuen Situation an? Die Antwort ist schwierig. Sicher reagieren Menschen auf Belohnung und Strafe, Anreize und Sanktionen. Aber ebenso beeinflussen Zufälligkeiten, Stimmungen und Gewohnheiten das menschliche Verhalten. Teils bewusst, teils auch unbewusst spielen intrinsische und extrinsische Motive, soziale Regeln, Gesetze, Bräuche und Werte eine wichtige Rolle. Weil neurologische Erkenntnisse zeigen, dass der Mensch stark von seinem Unterbewusstsein gesteuert wird, lässt sich schwer prognostizieren, wie er auf künftige Veränderungen reagiert.

4. Ökonomik ist eine Sozialwissenschaft

In der Ökonomik geht es um menschliches Verhalten. Es interessiert, wie soziale, gesellschaftliche und politische Regeln entstehen, und wie sie von wem beeinflusst werden. Dabei spielen Kultur und Traditionen genauso eine wichtige Rolle wie historische Abhängigkeiten und gewachsene ökonomische, rechtliche und politische Systeme. Im Verständnis der Ökonomik als Sozial- und Geisteswissenschaft kann es - anders als in den Natur- oder Ingenieurwissenschaften - keine immer richtigen Naturgesetze oderexakten Wahrheiten geben. Es kann bestenfalls um vorläufig gültige Einsichten gehen. Deshalb darf auch keine Exaktheit der Prognosen erwartet werden, wie sie in den Naturwissenschaften möglich ist.

5. Interdisziplinarität wichtiger denn je

Herdenverhalten, Eigendynamik, emotionale Panik, Verhaltensregeln vor allem aber Eigeninteresse und mikroökonomisches Gewinnstreben von Anlegern, Rating-Agenturen und Finanzinstituten haben auf zu stark deregulierten Finanzmärkten fundamentale gesamtwirtschaftliche Krisen ausgelöst. Es gilt nun, bessere Erkenntnisse und klügere Antworten zu finden. Sie werden künftige Krisen nicht verhindern. Aber wenigstens können sie die Schäden mindern. Dazu bedarf es eines interdisziplinären Ansatzes, der Psychologen, Verhaltenswissenschaftler, Neurologen, Soziologen und andere Disziplinen in die Ökonomik mit einbezieht.