Niedrige Zinsen, ein schwaches Neugeschäft und immer mehr Kündigungen stellen die Branche vor erhebliche Probleme.

Hamburg. Die Kunden von Lebensversicherungen müssen sich auf immer geringere Auszahlungen einstellen. Niedrige Zinsen, schwaches Neugeschäft und die steigende vorzeitige Kündigung von Verträgen belasten die 102 deutschen Lebensversicherer. "Für die Branche gibt es keine Atempause", sagt Tim Ockenga, Leiter des Versicherungsteams der Ratingagentur Fitch, dem Abendblatt. Zwar verbuchten die Gesellschaften 2009 durch die Erholung der Finanzmärkte eine bessere Verzinsung ihrer Kapitalanlagen. So stieg die Nettoverzinsung von 3,4 auf 4,2 Prozent und erreichte damit das Niveau der durchschnittlichen Überschussbeteiligung von 2010, die den Kunden gutgeschrieben wird. "In Abhängigkeit von der weiteren Kapitalmarktentwicklung dürfte es schwer werden, dieses Niveau wieder zu erreichen", sagt Ockenga. Er rechnet mit einer weiteren leichten Absenkung für 2011. Dabei werde die Schere zwischen den Gesellschaften, die ihre Überschussbeteiligung noch stabil halten und denen, die senken müssen, weiter aufgehen. Für 2010 hatte jedes dritte Unternehmen die Überschussbeteiligung gesenkt, ergab eine Abendblatt-Umfrage zum Jahresanfang.

Die niedrigen Zinsen sind für die Branche die größte Herausforderung. Carsten Zielke von der französischen Großbank Société Générale rechnet damit, dass die Rendite einer zehnjährigen Bundesanleihe von aktuell 3,1 auf 4,2 Prozent steigt - aber erst bis zum Jahr 2013. Andere Experten erwarten, dass es kaum noch zu steigenden Zinsen kommt. Nach ihrer Einschätzung führen das geringe Wirtschaftswachstum und eine schrumpfende Arbeitsbevölkerung in den westlichen Industrieländern zu langfristig niedrigen Zinsen. Das sind keine guten Aussichten für die Lebensversicherungen.

Insgesamt malt Fitch für die Branche ein düsteres Bild: Für 15 der 23 bewerteten Unternehmen vergibt die Agentur einen negativen Ausblick. Das bedeutet: Bei der nächsten Bewertung kann das Rating des Versicherers auf eine schlechtere Note herabgestuft werden. Die Finanzkraft der Versicherer wäre dann schwächer. Das würde den Spielraum der Unternehmen einengen, sinkende Zinsen mit Reserven auszugleichen. Von Abstufungen bedroht sind u. a. Marktführer Allianz, Axa, der Direktversicherer Cosmos und Generali, die inzwischen auch die Volksfürsorge-Policen verwaltet. Gründe für den negativen Ausblick bei der Allianz sind Rückgänge bei den Bewertungsreserven und Probleme bei den Geschäften in den USA. Eine der wenigen Gesellschaften mit einem stabilen Ausblick sind die Hamburg-Mannheimer und der Volkswohl Bund.

Angesichts der niedrigen Zinsen schichteten viele Versicherer 2009 in lang laufende Anleihen um, um höhere Zinsen zu erwirtschaften. Stärker als sonst investierten die Assekuranzen in Unternehmensanleihen. Extrem abhängig sind die Versicherer nach wie vor von Banken. 60 bis 70 Prozent aller festverzinslichen Anlagen entfallen auf Geldinstitute. Eine zweite Bankenkrise - etwa durch Staatspleiten von Euro-Ländern - würde deshalb die Versicherer hart treffen. Fitch sieht allerdings keine Alternativen zu der hohen Abhängigkeit von Banken. "Ob Anlagepolitik oder Zinsentwicklung - die Versicherer stecken in vielen Punkten in einem Dilemma", sagt Ockenga. Experte Zielke rät den Versicherern zu einem höheren Aktienanteil von 14 Prozent. Fitch geht aktuell von einem Aktienanteil von fünf Prozent aus, wovon die Hälfte noch abgesichert ist. Damit konnten die Versicherer kaum vom Aufschwung am Aktienmarkt profitieren.

Das Neugeschäft der Branche stagniert. "Manchem Versicherer fehlen die nötigen Produkte und Vertriebskanäle für ein nachhaltiges Neugeschäft", sagt Ockenga. Die Produkte müssten flexibler für die Kunden werden. "Neugeschäft wird nicht mehr mit laufenden Beitragszahlungen, sondern durch hohe Einmalzahlungen erzielt", sagt Zielke. Diese Geschäfte nahmen 2009 um 45 Prozent zu. Das Geld wird dabei, anders als bei der klassischen Lebensversicherung, nur kurzfristig zu besonders günstigen Konditionen angelegt. "Das geht zulasten der übrigen Versichertengemeinschaft", sagt Zielke. Fitch rechnet damit, dass die Stornoquote, also die vorzeitige Kündigung von Lebensversicherungen, von 5,5 auf 6,3 Prozent gestiegen ist. Nach Einschätzung von Zielke sind von hohen Stornoquoten vor allem Versicherer betroffen, die ihre Produkte über den Bankschalter vertreiben. Das wirft auch ein schlechtes Licht auf die Beratungsqualität der Banken.